Colostrum, die Erstmilch, die Kälber nach ihrer Geburt trinken, enthält überlebenswichtige Antikörper. Sorgfältig schoppt das Frischgeborene aus dem kleinen Milchkanister, den Bauer Pascal ihm entgegenhält. Fast verschluckt sich das Kalb, das leicht lockige Fell noch feucht vom postnatalen Schleim. Pascal streichelt es liebevoll an der Kehle, am Hals entlang, spricht ihm zu: «Nein, bleib hier» und «Magst du noch? Hmm?»
Der Film zeigt die Arbeit des Bauern Pascal und seiner freiwilligen Helferin Solène auf der Alp. Viele Szenen sind in der Totale gefilmt. Eindrücklich fängt die Regisseurin Sayaka Mizuno, deren Diplomfilm Kawasaki keirin (2016) als innovativster Schweizer Film ausgezeichnet wurde, die Berglandschaft rund um die Kette des Dents du Midi ein. Die Bilder wirken wie Postkarten, in denen der Wind weht, die Wolken vorbeiziehen und Solène und Pascal ihrer Arbeit nachgehen. Pflöcke werden eingeschlagen. Es wird geheut, gemolken, ausgemistet und gemeinsam gegessen. Die Dramaturgie des Films orientiert sich an der Trächtigkeit der Kühe, die im Frühsommer beginnt und im Winter endet. Kühe leben, Kühe kalben, Kühe sterben: Die Kühe sind auf subtile Art, vom Schnitt unterstützt, der Leitfaden des Films, aber auch der Arbeit auf der Alp.

© Visions du Réel/Stranger Films Sales
Geschickt werden die verschiedenen Tätigkeiten ineinander verwoben. Die sich wiederholenden Elemente der Arbeit und der Umgebung geben den Zuschauenden ein Gefühl von Zeit und Vertrautheit. Sie vermitteln in poetischer Art die Beziehung, die Mensch zu Natur und Nutztier haben kann, und fallen dabei nie ins Kitschige. Die Arbeit wirkt kräfteraubend, zugleich aber auch schön und lohnenswert.
Solène ist Anfang 30, hat kurz geschnittenes blondes Haar, raucht gedrehte Zigaretten. Fast schon stereotypisch verkörpert sie die ökofeministische Städterin, die sich auf neue Abenteuer auf der Alp eingelassen hat, um ihren eigenen Horizont zu erweitern. Im Gegensatz zu Pascal, dem gutmütigen Bergbauern, der sich selber spielt, ist Solène eine von Salomé Ziehli gespielte Rolle: Die Regisseurin gab den Protagonist:innen für ihre Dialoge Themen vor, die sie selbst ausarbeiteten, mit dem Ziel, unterschiedliche Standpunkte, die Menschen zu Nutztieren haben können, herauszuarbeiten. Dabei wurden auch Konfliktlinien, etwa zwischen Land und Stadt oder zwischen Landwirtschaft und Naturschutz, sichtbar. Als Solène bei einer Kaffeepause über die Gletscherschmelze als «Belästigung der Berge durch die Menschen» spricht, ändert sich die Körperhaltung des Bauern schlagartig.
Colostrum zeigt Landwirtschaft, in welcher der Mensch die Natur organisiert. Die Nutztierhaltung auf der Alp ist im Film facettenreich eingefangen, die zwischenmenschlichen Dialoge sind kurzgehalten. Dass Menschen unterschiedliche Bezüge zu Nutztieren haben können und dass darin Konflikte angelegt sind, wird sichtbar – aber nicht ausdiskutiert.
Junge Kritik
Diese Kritik entstand im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) am Dokumentarfilmfestival Visions du Réel 2025 in Nyon.