Ein halbes Leben lang waren sie verheiratet, eine kleine Ewigkeit sind sie jetzt schon geschieden. Trotzdem hat José noch immer einen Schlüssel für Noras Wohnung auf der anderen Strassenseite; irgendwo in einer beschaulichen Siedlung in Mexiko. Und als eines Tages eine Lieferung Fleisch für seine Ex-Frau bei ihm landet, trägt sie José ohne lange zu zögern hinüber und stellt sie in Noras Kühlschrank. Dabei sieht er, dass im Schlafzimmer Licht brennt. Argwöhnisch schaut er hinein und entdeckt seine Ex-Frau tot in ihrem Bett liegen. Ein paar Pillendöschen lassen keinen Zweifel daran, dass sie sich selbst getötet hat. Sonderlich überrascht ist José darüber nicht. Zu oft hat Nora bereits versucht, sich das Leben zu nehmen.
Die Rückblenden, die das zeigen, zählen zu den schwächsten Momenten des Films, weil sie offensichtlich nur dazu da sind, das zu zeigen. Zum Glück aber hält sich Cinco días sin nora nie lange in dieser plakativen Vergangenheit auf, sondern kehrt stets bald zurück in eine ungleich authentischere, vielschichtigere Gegenwart, in der es Nora endlich gelungen ist, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Akribisch hat sie ihren Abschied geplant. Den Zeitpunkt ihres Freitodes wählte die mexikanische Jüdin so, dass die Beerdigung wegen des anstehenden Pessachfestes und eines Schabbats frühestens in fünf Tagen stattfinden kann. Die Zutaten für das Essen während der Totenwache stehen bereits sorgsam beschriftet im Kühlschrank, ein Buch mit Kochrezepten und weiteren Anweisungen liegt auf dem Tisch. José aber möchte diesen letzten Triumph seiner Ex-Frau nicht gönnen. Wütend und trotzig sabotiert er die Trauerfeierlichkeiten, klebt die Zettel um, mit denen Nora die Speisen im Kühlschrank mit kleinen Zubereitungstipps versah, versteckt das Rezeptbuch, provoziert den zuständigen Rabbi mit einer ganz und gar unkoscheren Schinkenpizza und lässt von einem christlichen Bestattungsinstitut ein riesiges kitschiges Kreuz in der Wohnung aufstellen.
In dieser Wohnung spielt sich denn auch der bei weitem grösste Teil von Mariana Chenillos Spielfilmdebüt ab: im grossen Wohnzimmer mit der bieder-braunen Couch, auf der sich nach und nach die Trauergäste versammeln – der Sohn von Nora und José mit seiner Frau und den beiden Enkeltöchtern, der Rabbi und sein Schüler, der Arzt und Freund der Familie, die schrullige Tante Leah –, in der kleinen Küche, in der die zupackende Haushaltshilfe Fabiana das Essen zubereitet, und im Schlafzimmer, in dem Nora in reichlich Eis gepackt aufgebahrt liegt. Es macht die fotografische, dramaturgische und darstellerische Qualität dieser sanft-makaberen Komödie aus, dass trotz der räumlichen Enge nie der Eindruck einer Studioproduktion entsteht. Das warme, sonnige Licht, das durch die Fenster fällt, füllt die Zimmer mit einer behaglichen Atmosphäre; aller Trauer, allem Tod zum Trotz. Und Fernando Luján spielt zurückhaltend, mit wenigen Worten nicht die ganz grossen Gefühle, sondern die eher zarten, zerbrechlichen; die emotionalen Zwischentöne. Unter dem Bett seiner verstorbenen Ex-Frau findet er ein Foto, das sie in jungen Jahren in glücklicher Umarmung mit einem Mann zeigt, einem anderen Mann. Und das zu einer Zeit, in der José und Nora längst ein Paar waren. Und dieser andere Mann ist ausgerechnet Doktor Nurko, jener Arzt und Freund der Familie, den José als ersten verständigte, nachdem er Nora tot in ihrem Bett vorgefunden hatte.
Eine passionierte Selbstmörderin; ein verstockter, dickköpfiger alter Mann; ein junger Rabbischüler, der sich von dem gottes-lästernden Griesgram zwar einschüchtern, aber nicht vertreiben lässt und tapfer weiter seine Gebete spricht; eine gutmütige Haushaltshilfe und überzeugte Katholikin, die der Toten entgegen jüdischem Brauch heimlich das Gesicht schminkt, dazu eine Schwiegertochter, die genervt, ein Sohn, der vor allem verloren wirkt, und zwei süsse frechen Gören, die in den leeren Sarg klettern, um Verstecken zu spielen: Das alles klingt schräger und abgedrehter als es sich bei Chenillo dann tatsächlich darstellt. Der mexikanischen Regisseurin, aus deren Feder auch das Drehbuch zu Cinco días sin nora stammt, gelingt es nämlich, all diese Verrücktheiten und bizarren Konflikte geradezu selbstverständlich erscheinen zu lassen. Dazu trägt ihr unaufgeregter, fast altmodischer Erzählstil mit gleitender Kamera und malerischen Grossaufnahmen bei, der wohlige Score ebenso wie die verständnisvolle Charakterzeichnung, die den Menschen ihre Schwächen nicht abzusprechen, ihre Fehler nicht zu kaschieren versucht, sondern sie gerade in ihren Unzulänglichkeiten besonders liebenswert erscheinen lässt. So wirkt auch die Auseinandersetzung zwischen dem störrischen Atheisten, dem strebsamen Rabbischüler und der hartnäckigen Katholikin um den Ablauf der Totenwache eher kindisch als bedrohlich. Am schlechtesten kommt da noch der dogmatische Rabbi weg, der sich von José beleidigt fühlt, eine Entschuldigung einfordert und, als er die nicht bekommt, bei allen jüdischen Friedhöfen anruft, um zu verhindern, dass die Selbstmörderin Nora ein reguläres Begräbnis erhält.
Cinco días sin nora ist also ein Film über Religionen, über den Tod, über Trauer, über Liebe und Eifersucht. Es ist ein Film über das Kochen, über Tanten, Kinder, Opas und Schwiegertöchter. Ein Film über Lügen, Geheimnisse, Vertrauen, Erinnerungen und Zweifel. Verständnis und Toleranz. Eine Komödie über Starrsinnige und Eigenbrötler, Dickköpfe, Besserwisser und über Mexiko. Ein kleines, reifes Erstlingswerk; geschrieben und gedreht wie mit einem milden Lächeln auf den Lippen. Ein wunderbarer Film über das Leben.