Im Knast gibt es nicht viel zu sehen. Und entsprechend wenig zu zeigen. Graue Wände, enge Flure: das war’s im Wesentlichen. Zumindest auf den ersten Blick. Wer genauer hinschaut, wie es der Basler Regisseur Armin Biehler in seinem Spielfilmdebüt Chicken Mexicaine tut, der kann so einiges entdecken. Auf Beton gekritzelte Sprüche wie «Wer nichts wagt, kann nichts verlieren!» Den von Gitterstäben gerasterten Ausblick in den Himmel. Und vor allem die vielsagenden Gesten und Blicke von Gefangenen und Wärtern. Eine latente Spannung durchdringt die von Biehler inszenierte Gefängniswelt. Um die von schwelenden Aggressionen, Sehnsüchten und Ängsten aufgeladene Atmosphäre glaubwürdig einzufangen, braucht ein Filmemacher vor allem eines: authentische Darsteller. Tatsächlich steht und fällt das Kammerspiel im Kittchen mit den Schauspielern. Und Biehler hat hier ein glückliches Händchen bewiesen.
Bruno Cathomas, der 1998 für seine Darstellung des Titelhelden in Didi Danquarts Viehjud Levi den Deutschen Filmpreis erhielt, erweist sich in der Rolle des liebenswerten Gewohnheitsverbrechers Roby Schmucker als Idealbesetzung. Schmucker, durch dessen schmierige, raubeinige und proletenhafte Ganovenfassade Cathomas einen sensiblen, melancholischen und reichlich naiven Romantiker durchschimmern lässt, gibt der tragikomischen, mitunter etwas holprigen Gefängnisgeschichte ein inneres Zentrum. Bereits zum vierten Mal landet Schmucker im Gefängnis. Hier kennt er sich aus, weiss sich zu wehren, als ihm der Handlanger eines dunkelhäutigen Mitgefangenen, den er als «Bimbo» beschimpft, ins Essen spuckt. Demonstrativ würgt Schmucker noch zwei weitere Bissen seines «Chicken Mexicaine» runter. Zurück in seiner Zelle bricht er dann aber beinahe in Tränen aus.
In diesen ersten Szenen gelingt es Biehler, ein Bild vom Leben in einer Haftanstalt zu zeichnen, das – ob es nun der Gefängnisrealität entspricht oder nicht – durchweg stimmig wirkt. So kann man sich das Leben im Knast vorstellen: menschlich, im guten wie im schlechten Sinne. Auf die im Genre üblichen, nicht selten reisserischen Vergewaltigungsszenen verzichtet Biehler. Stattdessen lässt er Kameramann Thomas Wüthrich die starren Geometrien der Architektur in statischen Aufnahmen ablichten und rückt den Insassen in ihren Zellen mit der Handkamera auf den Leib. Statt pathetischen Pomp wählt Biehler den kleinen Ausschnitt. Gewalttätigkeiten wohnt in seinem Kinoerstling nichts Heroisches inne, sie bleiben klein, mies, schmutzig.
Um ein Gefühl für das Gefängnisdasein zu bekommen, hat sich Biehler im Vorfeld zu Chicken Mexicaine gleichsam selbst inhaftiert. Das Drehbuch entstand zum grossen Teil im Flügel 2, Zelle 145 des stillgelegten Basler Gefängnisses «Schällemätteli». Tage und Nächte verbrachte der Filmemacher dort in völliger Abgeschiedenheit. Zwitschernde Vögel und den fernen Stadtlärm hielt er in Geräuschprotokollen fest, die später den Ausgangspunkt für die von Daniel Almada komponierte, angenehm zurückhaltende Filmmusik lieferten. Gedreht wurde ebenfalls im «Schällemätteli». Und die Statisten der Massenszenen vereinten, wie es im Presseheft zum Film heisst, «insgesamt über zwanzig Jahre eigene Gefängniserfahrung».
Augenscheinlich schlägt sich in Chicken Mexicaine die dokumentarische Schule des einstigen Nachrichtenredakteurs von Telebasel durch. Leider aber auch sein Fernsehblick. Kinoformat erreicht die eher biedere Inszenierung nie. Die klein kadrierte Geschichte haftet nah am Menschen, ist mit der Seelenlupe aufgenommen statt in Cinema-Scope. Vielleicht ist Chicken Mexicaine auch in dieser zwiespältigen Bodenständigkeit ein typischer Schweizer Film. Biehler jedenfalls sieht ihn als «Schweizer Heimatfilm aus dem Knast» und spielt damit auf Friedrich Dürrenmatts vielzitierte Aussage an, die Schweiz sei ein Gefängnis, in dem die Aufseher gleichzeitig die Gefangenen seien. Der untergründige Humor, der hier mitschwingt, verleiht Chicken Mexicaine eine entspannte Leichtigkeit. Wirklich bedrohlich gerät der Gefängnisalltag dann doch nie. Die sympathisch überzeichneten Charaktere reihen Floskeln an Floskeln und sorgen so für die komödiantische Note mit leicht satirischem Einschlag. Es macht Spass, dem stocksteifen deutschen, von Peter Rühring grandios verkörperten Gefängnisdirektor Johannes Schwerdfeger beim süffisanten Regiment über die Schulter zu blicken.
Je mehr die Handlung aber Fahrt aufnimmt, desto weiter entfernt sich der Film vom feinen, ironischen Beobachten. Zu zwölf Jahren Zuchthaus wird der wortkarge Einzelgänger Schmucker verurteilt. Eine viel zu lange Zeit, um sie in Ruhe abzusitzen. Als er von Ausbruchsplänen eines Mitgefangenen hört, schliesst er sich diesem an. Doch die Flucht misslingt, und in einem Brief erfährt Schmucker, dass seine Tochter verschollen ist. Irgendwo in Afrika. Dort hatte er einst als Monteur gearbeitet und eine Familie gegründet. Jetzt will er seine Tochter unbedingt wiedersehen. Die grosse Chance dazu bietet sich ihm, als er zufällig herausfindet, dass ausgerechnet der Sohn des Direktors im Kellergewölbe des Gefängnisses Drogen fabriziert; und zwar indem er psychoaktive Pilze züchtet, die er dann zu Pillen verarbeitet. Das klingt nun schon eher nach Bauernschwank als nach Heimatfilm. Seine Glaubwürdigkeit hat der Film auf halber Strecke längst verloren, unterhaltsam bleibt er dennoch, wenn mittlerweile auch «nur» noch als leichte, triviale, dafür herzerwärmende und charmante Komödie. Biehler vollzieht mit seinem Film den Ausbruch aus der Realität ins Reich der Fiktionen. Keine grosse, eine kleine Flucht; aber immerhin eine gelungene.