Die meisten halten Fredi M. Murers Höhenfeuer für den besten aller Schweizer Filme, Hans Trommers Romeo und Julia auf dem Dorfe ist in den Umfragen, die zum hundertjährigen Jubiläum der Filmkunst gemacht wurden, auch ganz weit vorn. Allerdings nur in der Abteilung Schweiz, zu Orson Welles Citizen Kane, dem beten Film aller Zeiten, nimmt der Abtand auch für diese beiden galaktische Dimensionen an.
Vergleiche zwischen der Schweiz und den USA anzustellen aber ist ein Sakrileg. Und es ist ja auch tatsächlich unfair, den Ertrag der himbeersirupeinkochenden Hausfrau mit dem des Coca-Cola-Konzerns zu messen. Eine Frage aber bleibt trotzdem zu stellen. Warum ist in der Getränkeabteilung zumindest der selbstgemachte Saft so ungeschlagen gut, so nektargleich, ein solcher Trinkgenuss?
Qualität ist nicht nur eine Frage der Quantität
Sucht man hinter den beiden Besten weiter nach Schweizer Spielfilmen, die einen bewegten, in Erinnerung blieben oder gar halfen, der vermeintlichen persönlichen Sprachlosigkeit Bilder und Worte entgegenzuhalten, die einen wieder in gesellchaftliches und politisches Tun und Lassen einzubetten imstande waren, dann findet man doch immer wieder Filme, die das konnten.
Tanner, Schmid, Goretta, Godard und vielleicht sogar Lea Pool – falls die beiden letzteren überhaupt zum Schweizer Film gehören – sind Namen, die doch auch einen bestimmten Beitrag zur Begriffsbildung des Heimatlichen, so wie es die damalige Jugend erfuhr, leisteten. Und gerne schauen wir heute das eine und andere von Frühs und Schnyders Meisterwerken an und denken, wie schön oder wie einfach war es damals noch oder auch: «welch tragische Grösse im Kleinen!»
Höhenfeuer ist 1985 entstanden, Trommers Meisterwerk gar 1941 (gut, Citizen Kane ist auch nicht mehr der jüngste), und Tanner und Co.s Werke von Belang gehören ebenfalls entfernteren Zeiten an. Wo sind die guten Filme der letzten zehn Jahre?
Einschub Dokumentarfilm
Wir schauen uns vermehrt den Schweizer Dokumentarfilm an, da wird es uns wenigstens nicht peinlich zumute.
Menschen wie Peter Hirsch alias Surava, Gerhard Meier oder Che Guevara (alle wiederum nicht mehr die jüngsten) zeigen uns, dass ein autonomes und tätiges Leben verschiedene Gesichter haben kann, und aufatmend sehen wir, wie unendliche viele Möglichkeiten es gibt, nicht zu dem vielzitierten, aber seltsam unsichtbar bleibenden Stand der Füdlibürger zu gehören. Im Schweizer Film scheint der ohnehin gar nicht zu existieren, denn geht man zu den Bauern, in die High-Tech-Firma. zu den sozialistischen, emanzipierten Frauen quer durch das zwanzigste Jahrhundert oder auf den Drogenum chlagplatz der neunziger Jahre, überall treffen wir auf Menschen, die Liebenswertes, Ohnmächtiges und Tüchtiges in sich vereinen, kurz en chen, die auf der richtigen Seite ind. Das Böse ist der Komplexität der Überleben trategien gewichen, da (politi ehe) System bleibt zwar Prügelknabe, umrner eins, es ist aber auf merkwürdige Artautonom und anonym und somit im mutigsten Falle beschimpfbar. Den aktiv politischen Blick gibt es zurzeit auch im Dokumentarfilm nicht.
(Bild: Gasser & Gasser)
Gasser & Gasser, Iwan Schumachers Film über die Fichenaffäre und die (wenigen) Folgen, kann als Beispiel dafür gelten, dass jede Regel ihre Ausnahme hat. Nicht, da es der beste der hier aufgezählten Filme, wäre, aber in diesem Film spielt unsere Demokratie die Hauptrolle, nicht versteckt, nicht als amorphe Hintergrundkulisse aufgrund derer sich besonder betroffene oder besonders tüchtige Einzelfiguren freiwillig oder unfreiwillig eine herausragende Biographie be orgten. (E macht ohnehin den Anschein, als ob man heutzutage als Filmstudentln ins Freie tritt und als erstes eine träfe Figur sucht, auf die eigene Profilierungswünsche mühelos übertragen werden können.)
Sondern greifbar als ein von uns selbst geschaffener Zwang (zu Recht und Ordnung), dem wir manchmal wie Zauberlehrlinge nicht mehr Herr und Meister werden.
Fiktion
Seit Heinrich Manns «Der Untertan» (1914) mangelt es in Mitteleuropa an Bestrebungen, die Seele des angepassten, kleinbürgerlichen bis faschistoiden Menschen zu erkunden. Dabei hängt doch gerade der faschistoide Kleinbürger wie ein Damoklesschwert über der Demokratie. Jeder kennt ihn, aber niemand hat mit ihm etwas zu tun. Abgesehen vom dämonisch Bösen, dessen Faszination unbestritten durch sämtliche Jahrzehnte gleich erhalten bleibt, fristet der Mensch, der zum Bösen fähig ist , ein eng begrenztes und klischeehaftes Dasein. Sture Beamte, eifersüchtige Geliebte, possessive Väter und rebellierende Kinder sind etwa die Umstände, die zu Rache, Mord und Intrigen führen können. Das Gute im Bösen, Böse im Guten und der stete Antrieb zum einen oder andern bleibt in solcher Psychologisierung auf der Strecke. Ebenso die Tatsache, dass Rache, Mord und Intrigen meistens die nichtgelebten Lösungen sind.
(Bild: Lou n'a pas dit non)
Mitten im Leben sind wir von Krieg, Neid, Hass und materiell bedingter Skrupellosigkeit umgeben. Die Mitte selbst ist ein beschauliches Heim, ein erträglicher Arbeitsplatz und ein Unterhaltungs- und Freizeitangebot, das so viel sinnvolle Ablenkung verspricht, wie ein Psychoanalytiker Befreiung von dem eigenen Ich.
Man dürfte Begriffpaare wie Aussen – Innen, Öffentlich – Privat, Böse und Gut nicht als sich ausschliessende Widersprüche beschreiben, sondern als strukturierenden Vorgang begreifen, als einander bedingend und formend.
Beispiele aus der Spielfilmproduktion
Schauen wir uns die Spielfilmproduktion der letzten Jahre an, stossen wir auf folgende, nicht nur willkürlich zusammengestellte Inhalte.
Ein (guter) Verdingbub wird Boxer und läuft Amok (gegen die böse Gesellschaft), ein (guter) Polizist in den fünfziger Jahren ebenso, ein alter Orientalist (gut) reist nach Sri Lanka (wo das Böse lauert) und verliert seine Mitte, ein junges Mädchen (gut) in einer fremden Hafenstadt (böse) seine ohnehin schon verlorene Unschuld, oder zwei Exgeliebte quälen sich wonnevoll durchs an sich heiratsfähige Alter (Charaktere: indifferent).
Das sind Beispiele aus Punch von Johannes Flütsch, Wachtmeister Zumbühl von Urs Odermatt, Le livre de Cristal von Patricia Plattner, Joe & Marie von Tanja Stöcklin, Lou n'a pas dit non von Anne Marie Mieville, alles Geschichten und Themen, die es zweifelsohne gibt oder gegeben hat oder geben könnte. Die Fiktion erreicht ja die Realität in ihrer Vielfältigkeit bei weitem nie. Dass diese Geschichten mir, trotz der angestrebten Wahrhaftigkeit, nichts sagen, hat auch nichts mit der Themenwahl a priori zu tun. Denn man könnte mich selbst für einen Insektenforscher interessieren. Selbst wenn er hunderte Jahre früher gelebt hätte, selbst wenn er Insekten in Neuseeland gejagt hätte ... (Und vor allem, wenn nicht schon in den ersten Minuten zentral und somit klar geworden ist, ob er zu den Guten oder Bösen zählt.) Allerdings müsste man mir die Relevanz des Insektenforschers mitliefern und klar deklarieren, was mir wie und aus welchem Grunde mitgeteilt werden soll. Nicht in Verschleierung des Blickes, sondern in der Offenlegung des subjektiven Standpunktes des/der Autor/in. Das heisst, dass alles, was so tut, als ob Identifizierung und Verinnerlichung der Situation des Protagonisten die grösstmögliche Nähe böte, genau das Gegenteil hervorbringt: blinde Gefühlswelt, unglaubwürdige Handlungsstränge, undurchschaubare Reaktionen, aufgesetzte Moral.
(Bild: Wachtmeister Zumbühl)
Ein Insektenforscher, der, weil er von der dominanten Mutter ignoriert wurde, sich aus Rache von den Menschen abwendet, ein Boot besteigt und in Neuseeland dank einer urwüchsigen Eingeborenen, die ebenso hübsch wie standesgemäss ist (Königstochter oder ähnliches), zu sich selbst und damit zur Welt zurückfindet, und die böse Mutter am Schluss tränenselig den Enkel in die Arme schliesst, interessiert mich nicht.
Der (fiktive) Insektenforscher soll nicht einfach exotisches Mittel sein, anhand dessen populärpsychologische Serienthemen, Kostüme und Landschaft schön inszeniert werden können. Er muss aus sich selbst heraus mit mir in Kontakt treten.
Ein paar (positive) Beispiele
Der Bayernkönig Ludwig II. kann einer Frau von heute an sich herzlich wenig Identifikationsebenen bieten, man kennt einen berühmten Film mit Helmut Berger, seine Schlösser stehen noch in der Landschaft herum und seine Träume waren aus solchem Stoff, dass er selbst nicht mehr so recht daran glauben mochte. Donatello und Fosco Dubini zeigen in Ludwig 1881 Aspekte, die spannende Referenzen zu diesem «Wissen» schaffen, der Spielfilm arbeitet mit gleichsam visuell dramaturgischen Mitteln und öffnet Ebenen und Facetten dieser (Kunst)Figur, die überraschen und inspirieren. Weder Sissi noch königliche Partys wollen mir sein Leben näherbringen, ich habe nicht mitzuverfolgen, wie die Regisseure sich das Leben Ludwigs vorstellen, ich verbinde ihre Forschungen mit meinem Erfahrungshorizont.
Ausgerechnet Zoë von Markus Imboden, ein ganz anderes Beispiel, übernimmt die Äusserlichkeiten eines Fernsehfilms, zeigt aber innerhalb dieser Gattung, dass dort durchaus gesellschaftlich relevante Themen auf einzelne, liebenswerte und problematische Charaktere übertragen werden können.
Ich weiss jederzeit, wo ich bin, und akzeptiere diesen Rahmen. Der Film tut nicht so, als ob er nun mit den Mitteln der Kunst dem Lebensproblem der heutigen Jugend auf den Grund gehen wollte, aber er zeigt auf eine spannende Weise Wegabschnitte einer jungen Frau, die innerhalb ihres Lebens (das einem grossen Teil der jungen Menschen in den heutigen Städten entspricht) Aids begegnet.
Peter Mettler greift in seiner Verfilmung eines Theaterstückes (Tectonic Plates) zu Mitteln, die das Theater den Cinephilen nahebringen, und zwar so, dass die Synthese zu einem höchst interessanten Eigenprodukt wird. Die Möglichkeit der Nähe wird filmisch genutzt, indem eine Einzelperson und deren Reise durch die Welt und Evolution in einer Personifizierung durch eine Schauspielerin stattfindet. Es ist weder das hehre Ansinnen allein, mir die Arbeit des Theätre Repere ans Herz zu legen, noch das filmisch unterhaltende Angebot, einer beigemischten Liebesgeschichte beizuwohnen, sondern eine Synthese der visuellen Theaterarbeit dieses Theaters mit den Mitteln des Kinos (nicht nur des Filmes).
Und zu guter Letzt ein Beispiel aus noch früheren Jahren. Xavier Koller versteht es in seinem oscargekrönten Film Reise der Hoffnung meisterhaft, eine Botschaft in richtige Licht zu setzen. Es stimmte der Zeitpunkt: ein aktueller, allgemein aufwühlender Fall wurde so schnell wie möglich nachkonstruiert. Es stimmt das Pathos: Die Tatsache, dass ein Kind auf der Flucht in unserem zivilisierten Land erfrieren kann, bedarf nicht leiser Töne. Und es stimm die Produktion: die türkisch-schweizerische Zusammenarbeit gibt dem ganzen, trotz fiktionalisierter Umsetzung eines Tatsachenberichtes, Authentizität.
Koller vermittelt dass, was er, will, optimal. Denn Zeigen heisst nicht, zum vornherein verstanden zu werden. Höhenfeuer und Romeo und Julia auf dem Dorfe sind nicht die einzigen swiss-made-Fabrikate, die Poesie mit Relevanz verbinden, gemessen an der Produktion sind es aber dennoch bei weitem zuwenige.