Am Anfang steht die Suche nach der Form. Material, das über sieben Jahre der Recherche und des Filmens entstanden ist, muss sortiert, in Form gebracht werden. Das gilt im Kleinen wie im Grossen. Gleich zu Beginn des Films kommt ein Mitarbeiter des internationalen Strafgerichtshofs in die Zentralafrikanische Republik gereist, um dort ein Beweisstück für den Prozess gegen den kongolesischen Politiker Jean-Pierre Bemba in Den Haag zu sichern. Es handelt sich um das titelgebende Cahier, um ein Schulheft, in dem die Opfer kongolesischer Söldner ihre Aussagen und Fotos gesammelt haben. Aussen ist das Heft mit dem Bild eines gelben Sportwagens bedruckt, innen reihen sich handgeschriebene Berichte über Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Morde dicht hintereinander. Das Gesicht des Gesandten aus Den Haag sehen wir nicht, dafür die einzelnen Schritte der Beweissicherung. Das Heft gleitet in eine Folie, dann in ein Paket, dieses wird in einen Rucksack gepackt und der wiederum wird doppelt verschlossen und gesichert, mit Drahtseil und Zahlenschloss – eine Montagesequenz wie in einem Agententhriller, eine Sequenz, die in eine Form gefunden hat. Die Form im Kleinen meint das Bauprinzip des Films als ganzen: Mit 120 Minuten Länge und gegliedert in drei Kapitel entfaltet er sich im epischen Format mit zielsicherem Zulauf auf einen Abschluss, das heisst auf eine mehr als ikonische Schlusseinstellung.
Mit der sauberen Formatierung geht die Klärung der Perspektive einher. Heidi Specognas Film, der mit Ausdauer und Aufdeckungswillen vom Leben junger Frauen berichtet und erzählt, von einem Mädchen, dem das Bein zerschossen wurde, oder einer Frau, deren Tochter in einer Vergewaltigung gezeugt wurde, will – und das wirkt doch etwas befremdlich – auch ein Film über Heidi Specogna sein, über ihre Ausdauer und ihren Aufdeckungswillen: «Dieses Heft hat mich nicht mehr losgelassen», heisst es aus dem Off ganz zu Beginn des Films. Immer wieder dringt von aussen diese weibliche Erzählstimme ins Bild, immer wieder sucht Cahier africain nach diesem stabilen Ich, das den Blick auf die Welt freigibt. Nicht, dass jede Subjektivität grundsätzlich aus dem Dokumentarismus hinausgerechnet werden sollte, aber bei Specogna nimmt sie eine Gestalt an, die durchaus fraglich ist. Das hat zum einen mit der Sprachmelodie zu tun, in der sich Andächtigkeit mit nüchterner Berichterstattung mischt und die, je nüchterner sie sich in der Andacht gibt, einer Betroffenheitsrhetorik bedrohlich nahe kommt, von der dann wirklich nicht mehr klar ist, was sie eigentlich leistet, ausser dass sich durch sie ein leidendes Ich selbst kommuniziert.
Das hat aber, mehr noch, mit einer zweiten und ebenso zentralen Bewegung dieses Films zu tun. Zweimal sehen wir Aufnahmen von Leichen. Beide Szenen stehen in diesem Film wie riesige Massivholzschränke in einer viel zu engen Kammer. Nicht etwa weil hier ein Tabu zugunsten einer aufklärerischen Drastik überschritten würde, sondern weil die Kamera in diesen Szenen von einer seltsamen Obsession durchwirkt ist. Wir sehen Leichen am Strassenrand, Menschen stehen mit einigem Abstand von ihnen entfernt, nur die Kamera nähert sich ihnen. Sie umkreist die toten Körper, sucht nach ihren Wunden, richtet den Blick auf einen durchschossenen Kopf, auf die innere Körpermasse, die auf die Erde quoll, wo sie gerann. Es sind unerträgliche Bilder. Aber es sind eben auch Bilder, die zudem die sehende, obsessive, zeigende, leidende, in einem höchst seltsamen Sinn für uns leidende, für uns ertragende Subjektivität ausweisen. «Siehe, ich zeige dir das Leid!» Das primäre Charakteristikum dieser Bilder ist die deiktische Operation, die sie hervorbringt, ihr Inhalt besteht dann nicht mehr unabhängig davon; bevor man Leid sagt, sagt man Ich.
Mit der Formstrenge und der Perspektive entstehen gewaltige Dissonanzen im dokumentarischen Ethos dieses Films. Wieso nimmt sich dieses Ich – wenn man will, kann man es westlich nennen – hier so wichtig? Warum posiert es derart unbescheiden im Rampenlicht? Diese Frage muss sich Specogna gefallen lassen, weil §Cahier africain in einigen tatsächlich grossartigen Szenen genau solche perspektivischen Regimes in die Kritik nimmt. Einmal sehen wir die Dorfgemeinschaft in einer katholischen Kirche versammelt. Auf einer Leinwand verfolgen sie die Übertragung des Prozesses gegen Bemba in Den Haag. Danach ergreifen Einzelne das Wort, sprechen in die Gruppe, erheben Anklage. Aber wer hört sie dort? Die Leinwand ist ihnen gegenüber taub. Es braucht nicht mehr als solche unkommentierten Szenen; in ihnen wird die ganze Asymmetrie von Weltverhältnissen offenbar.
Wenige Sekunden dieses Films finden in Berlin statt. Wir sehen Arlette, die dort operiert wird, aus dem Fenster der Charité blicken. Sie schaut in das ihr völlig Fremde, auf eine Häuserfassade, ein Strassenschild, einen diesigen Himmel. Es hätte in dieser Szene der Kommentierung nicht bedurft, um diese wenigen Filmsekunden, in denen einmal westliche Strukturen in einen zweistündigen Film förmlich einbrechen, als radikalen Fremdkörper auszuweisen. Der Film findet in Arlettes Perspektive, ohne sie sich anzumassen, interessiert sich für ihren Blick, ohne ihn zu absorbieren.
Diese beiden Bewegungen machen Cahier africain am Ende zu einem seltsam schizophrenen Gebilde, zu einem Film, der seiner eigenen Klugheit und Präzision misstraut und der mit einem völlig sinnwidrigen Handgriff so viel messerscharfe Subtilität in die viel zu engen Gefässe der Form und der Autorenperspektive stopft.