Komplex erzählte Filme tendieren dazu, den Zuschauer mit einer zu banalen Auflösung zu enttäuschen. Trotzdem hinterlassen sie bisweilen so starke emotionale Spuren, dass man nicht umhin kann, sich ein zweites Mal darauf einzulassen, sei es, um die komplexe Konstruktion zu entschlüsseln oder noch tiefer in die Gefühlswelt der Figuren einzutauchen.
Café de Flore ist so ein Film, dessen faszinierendes Geflecht aus Querverweisen und Parallelmontagen sich erst bei wiederholter Begegnung vollständig erschliesst. Anders als etwa David Lynch, der uns bewusst Puzzleteile vorsetzt, die nicht zusammenpassen, verschränkt der Franko-Kanadier Jean-Marc Vallée zwei zeitlich und räumlich getrennte Erzählstränge zu einer subjektiven Meditation über Seelenverwandtschaft und Trennungsschmerz.
Erzählt werden beide Geschichten von der 38-jährigen Carole, deren Leben seit der Trennung von ihrem Ehemann Antoine von Alpträumen, Schlafmitteln und Erinnerungen an die gemeinsame Teenagerzeit geprägt ist. Wie zunehmend klar wird, handelt der Film auch von Caroles eigener Traumwelt, in die sie sich immer weiter zurückzieht, nicht um Antoine zu vergessen, sondern um ihrem Leiden einen Sinn zu geben.
In Sätzen wie «Ce jour-là, à cet instant précis … Antoine et Carole avaient souhaité s’aimer … jusqu’à la fin des temps» zeigt sich die märchenhafte Sicht auf ihre Beziehung zu Antoine. Bezeichnenderweise beschreibt sie ihn als einen Mann, der allen Grund hat, glücklich zu sein, und findet auch an der jungen Rose, der neuen Frau an seiner Seite, nur Positives. Antoine hingegen stellt sich die Frage, wie es möglich sei, zweimal im Leben eine Seelenverwandte zu finden. Natürlich hadert er auch mit dem Gefühl, das Familienleben seiner beiden Töchter zerstört zu haben. Da und dort flackern Hinweise auf ein schwieriges Verhältnis zu seinem eigenen Vater auf, wie es in Vallées vorletztem Film C.R.A.Z.Y. im Zentrum stand.
Innerhalb dieses 2010 in Montreal spielenden Erzählstrangs teilen wir die Perspektive von Antoine, dessen scheinbar objektive Wahrnehmung immer wieder ins Subjektive kippt. Schliesslich ist auch der Star-DJ Antoine ein Getriebener, der sich in die Schwerelosigkeit seiner musikalischen Welt zurückzieht, mit dem Kopfhörer die Umgebungsgeräusche aussperrt. Neben dieser introvertierten Seite verleiht der Popmusiker Kevin Parent seinem Antoine aber auch jene naive Jungenhaftigkeit, die ihn für die beiden Frauen so unwiderstehlich macht.
Formal lotet Vallée die Analogien zu Antoines Arbeit als DJ in rhythmisierten Schnittfolgen aus, setzt auf extreme Kontraste, visuell wie akustisch, vom scheinbaren Schwebezustand bis zum Tonloch, einer Technik, die Antoine in seinen Konzerten gerne verwendet, um dem Nachfolgenden besonderes Gewicht zu geben. Immer wieder reflektiert Vallée die formale Gestaltung mit inhaltlichen Parallelen. Die Tonlöcher finden ihre Entsprechung beispielsweise in den stummen Schreien der nachtwandelnden Carole.
Doch Vallées Auseinandersetzung mit Musik geht weit über die assoziative Montage hinaus. Deutlich wird dies, als Antoine seinem Psychiater zu erklären versucht, wie ein unspektakuläres Musikstück beim Joggen die Sicht auf seine Umgebung verändert und sich dadurch mit neuer Bedeutung aufgeladen hat. Immer wieder löst Musik aber auch Schmerz aus, etwa wenn die zwölfjährige Angéline ihren Vater mit einem Lieblingslied von Carole provoziert, während dieser mit Rose im Bett liegt.
Wie schon C.R.A.Z.Y. verdankt auch Café de Flore seinen Titel einem Musikstück. Es handelt sich dabei um ein Instrumentalstück von Doctor Rockit, mit dessen exzessivem Hören Antoine seine Familie nervt, zu dessen Rhythmen er sich in Rose verliebt, und über dessen Retro-Bigband-Version schliesslich die Parallelgeschichte im Paris des Jahres 1969 eingeführt wird.
Dort opfert sich die Coiffeuse Jacqueline hingebungsvoll für ihren siebenjährigen Sohn Laurent auf, den sie trotz Down-Syndrom um jeden Preis auf eine normale Schule schicken will. Selten hat man Vanessa Paradis derart unglamourös gesehen. Als kompromisslos liebende Mutter strahlt sie viel Wärme aus, lässt aber auch die hässliche Fratze krankhafter Verbissenheit immer wieder furchteinflössend durchscheinen.
Erzählt wird auch diese Geschichte von Carole, der zu diesem Zeitpunkt der Bezug zu ihrem eigenen Leben ebensowenig klar ist wie dem Zuschauer. Doch Vallée vermischt die Ebenen an den Schnittstellen zunehmend für kurze Momente, schneidet mitten in der Bewegung von Jacqueline zu Carole. Langsam schleichen sich Zweifel bezüglich der Verlässlichkeit des Gezeigten ein. Der körnige Sechzigerjahre-Look täuscht darüber hinweg, dass es sich um ein künstliches, aus Archivbildern und neuen Aufnahmen zusammengebasteltes Paris zwischen Notre Dame und dem realen Café de Flore handelt. Dass Laurent jeden Morgen eine Bigband-Version von «Café de Flore» ab Platte hören will, die erst Jahrzehnte später entstanden ist, mag auch nur Eingeweihte irritieren.
Nicht zu übersehen ist jedoch, dass Laurents Geschichte auch über das gemeinsame Lieblingsstück hinaus mit Antoines Leben in Beziehung tritt. Wenn Antoine beispielsweise von einem Auftritt zum nächsten fliegt, folgt Laurent mit dem Finger der Reflexion eines Flugzeugs auf einer Fensterscheibe. Plötzlich lässt sich auch die vom Filmtitel unterbrochene Zeitlupensequenz anders deuten, während der Antoine auf dem Flughafen eine Gruppe Jugendlicher mit Down-Syndrom kreuzt.
In einer mehrstufigen Rückblende machen sich Carole und die Kinder über Antoines Begeisterung für den Song «svefn-g-engar» der isländischen Gruppe Sigur Ros lustig, worauf wir zu diesem sphärischen Stück verspielte Momente aus glücklichen Tagen sehen, die in Zwischenschnitten darauf hindeuten, dass Carole in Antoine noch immer den verliebten Teenager des Jahres 1986 sieht. Bald darauf wird sich Laurent zu eben diesem Song in Zeitlupe in Véro verlieben, die ebenfalls am Down-Syndrom leidet. Damit greift Vallée auch das Musikvideo zu «svefn-g-engar» auf.
Das mag jetzt alles sehr konstruiert klingen, entfaltet sich auf der Leinwand aber völlig unangestrengt. Wenn Café de Flore trotz seiner Fülle von Themen bisweilen an Ort zu treten scheint, kann man das auch als Ausdruck des Rückzugs seiner Protagonisten in ihre je eigene Welt verstehen.
Die von Anfang an eingestreuten Hinweise auf den assoziativen Zusammenhang der beiden Geschichten verdichten sich schliesslich in einem Foto unter dem Abspann. Doch Jean-Marc Vallée vertraut nicht restlos auf unsere Phantasie. Im dritten Akt lässt er Caroles Sinnsuche in eine Richtung driften, die dem Film auf den ersten Blick viel von seinem geheimnisvollen Schwebezustand nimmt. Die Tatsache, dass Carole trotz beherzter Intervention ihrer bodenständigen Freundin ihre Erlösung in der Esoterik findet, bringt den Film für einen Moment so arg aus dem Gleichgewicht, dass man als Zuschauer danach möglicherweise übersieht, dass der Film seine Erzählerin nicht zur objektiven Instanz erhebt und neben Caroles subjektiver eine ebenso einfache rationale Erklärung anbietet.
So deutet die enttäuschende Auflösung an, dass die Bewältigung einer Lebenskrise nicht zwingend zu Klarsicht führen muss. Vielleicht kann sich der Wunsch nach Erklärungen für etwas so Irrationales wie die Liebe nur in einer Welt erfüllen, die sich unseren eigenen Regeln anpasst und nicht umgekehrt.