Es war ein denkwürdiger Moment, als Bong Joon-ho am Abend des 9. Februar 2020 zum dritten Mal die Bühne des Dolby Theatre betrat. Eben hatte er mit der Auszeichnung für den besten internationalen Film und das beste Originaldrehbuch den wichtigsten Filmpreis der Welt erstmals nach Südkorea geholt. Bei der Bekanntgabe der besten Regie gedachte sich der vermeintliche Aussenseiter – wie er später in seiner Dankesrede zumindest behauptete – zu entspannen. Er rechnete wohl nicht mit einem weiteren Preis: Es sassen mit Martin Scorsese und Quentin Tarantino ja zwei amerikanische Meisterregisseure im Saal.
Doch Bong, für Gisaengchung (Parasite, 2019) in Cannes bereits mit der Goldenen Palme und von der internationalen Filmkritik mit Lobeshymnen bedacht, sollte sich an diesem Abend als übermächtig erweisen. Der neue asiatische Starregisseur lobte Scorsese als Vorbild, das er auf der Filmhochschule in Seoul eingehend studiert habe; und er dankte Tarantino als Mentor, der ihn immer in seine viel beachtete Bestenlisten aufgenommen habe.
Doch Bongs Rede und die anschliessenden Interviews waren auf Koreanisch. Auch die Parasite-Produzentin Kwak Sin-ae bedankte sich auf Koreanisch für ihren Oscar – und vorrangig beim koreanischen Publikum, das diese Anerkennung erst ermöglicht habe. Auf die unausweichliche Frage im Backstage-Interview, ob er als Nächstes einen Hollywoodfilm zu drehen gedenke, gab sich Bong zurückhaltend. Natürlich müsse er weiterhin Drehbücher schreiben und inszenieren, das sei schliesslich sein Job. Doch er habe einen Plan.
Gezielter Erfolg
Aus dem Plan wurde Wirklichkeit. Der mit Robert Pattinson starbesetzte Science-Fiction-Film Mickey 17 gilt bereits jetzt als einer der am ungeduldigsten erwarteten Hollywoodfilme des Jahres. Während die Vorschusslorbeeren prächtig gedeihen, halten sich die systemkritischen Stimmen – die an Zeiten erinnern, als Hollywood asiatische Spitzenkräfte wie John Woo für einen frischen Anstrich seiner Blockbuster engagierte – bewusst zurück. Denn Bong Joon-ho beeindruckt seit mehr als 20 Jahren als Autor und Filmemacher nicht nur ästhetisch mit originellen Arbeiten, sondern auch mit politisch wachsamen.
Die vier Oscars und die erste Goldene Palme für einen koreanischen Film kamen jedenfalls nicht überraschend. Südkorea boomt schon seit geraumer Zeit, und vor allem die Unterhaltungsindustrie sorgt regelmässig international für Furore - Stichwort K-Pop, Hallyuwood und Ojingeo Game (Squid Game, 2021-). Lifestyle, Mode und Kulinarik inklusive. Im Filmgeschäft funktioniert die Promotion koreanischer Filme bei den grossen Festivals hervorragend, und auch die publikumswirksamen Stoffe verdanken sich nicht dem Zufall.
Durch eine gezielte Förderpolitik und protektionistische Massnahmen erreicht das koreanische Kino einen der höchsten nationalen Marktanteile.
Denn nur mit der Kreativität einer talentierten Generation von Filmschaffenden lässt sich der Erfolg nicht erklären: Regisseure wie Bong Joon-ho, Park Chan-wook und Kim Jee-woon, alle zwischen 50 und
60 Jahre alt, sind längst keine Newcomer mehr, sondern gelten mit ihren raffiniert erzählten Genrefilmen in der Heimat als Regiestars.
So konnte Bong bereits 2005 für sein Monsterdrama Gwoemul (The Host) auf das höchste Budget zurückgreifen, das in Korea bis dahin zur Verfügung gestellt worden war. Und Apple hätte sich für den strategisch wichtigen Launch seines Streamingdienstes in Südkorea keinen besseren Filmemacher aussuchen können als Kim Jee-woon. Der genoss seit Langem den Ruf eines brillanten Handwerkers und überzeugte auch mit der Thrillerserie Dr. Beurein (Dr. Brain, 2021). Perfekte Lichtsetzung, satte Farbgebung und ein hochwirksames Szenenbild sind die Markenzeichen von Kims stilisierten Filmen wie dem längst zum Horrorklassiker gewordenen Janghwa, Hongryeon (A Tale of Two Sisters, 2003) oder dem Spionagethriller Miljeong (The Age of Shadows,
2016). Dass die Unbarmherzigkeit des koreanischen Starsystems jener Hollywoods kaum nachsteht, bewies vor wenigen Monaten der Freitod des grossartigen Lee Sun-kyun, der den brillanten, an der bizarren Reanimation seiner Frau arbeitenden Neurowissenschaftler verkörpert und der auch in Parasite eine der Hauptrollen übernommen hatte.
Kreatives Geschick
Doch trotz allen günstigen Voraussetzungen beruht Bongs Erfolg selbstverständlich auch auf jahrzehntelanger Arbeit. Souverän beschreitet er seit 20 Jahren mit Filmen, die bei Kritik und Publikum gleichermassen Beifall finden, den schmalen Grat zwischen Autorenkino und Mainstream. Wenn Bong wiederholt Alfred Hitchcock und Claude Chabrol als für ihn einflussreiche Regisseure anführt, bezieht sich deren Vorbildwirkung nicht nur auf ihre kanonische Stellung innerhalb der Filmgeschichte, sondern auch auf das kreative Geschick, mit kunstvoll inszenierten Genrefilmen ein breites Publikum zu finden. Tatsächlich sind Bongs Filme eingängiger als etwa die Arbeiten des studierten Philosophen Park Chan-wook (Heeojil gyeolsim/Decision to Leave, 2022) oder des Schriftstellers Lee Chang- dong (Beoning/Burning). Sie sprechen eine universellere Sprache als die selbstreflexiven Filme von Hong Sang-soo (Jigeumeun-matgo -geuttaeneun-teullida/ Right Now, Wrong Then, 2015), der von einem überschaubaren Festivalpublikum verehrt wird; und sie sind bekömmlicher als die idiosynkratischen Gewaltdramen des 2020 verstorbenen Kim Ki-duk (Pieta, 2012).
Mit analytischer Präzision macht sich Bong seine Genres – Thriller, Monster, Drama, Science-Fiction – zu eigen und verändert dabei gewohnte Sichtweisen. Dass etwa das Monster in The Host bereits nach einer Viertelstunde zur Gänze bei Tageslicht zu sehen ist, widerspricht jeglicher Erwartungshaltung und funktioniert als Effekt deshalb umso besser. Doch wichtiger als die Unterwanderung klassischer Erzählstrategien ist Bongs ausgeprägte Vorliebe für das Bizarre und Absonderliche.
So versucht in seinem Debütfilm Flanders-ui gae (Barking Dogs Never Bite, 2000) ein genervter Bewohner eines Hochhauses am Stadtrand von Seoul, sich kläffender Köter zu entledigen – natürlich mit einer nicht zielführenden Strategie. Auch der Plan der beiden Polizisten in Salinui chueok (Memories of Murder, 2003), Bongs erstem internationalen Erfolg, einen Serienkiller zu schnappen, führt sie nicht ans Ziel – einzig Jahre später einen der Ermittler, mittlerweile als Handelsvertreter, zurück an den Ort des Verbrechens.
Die Armen und Geschundenen, die sich im gesellschaftsdystopischen Endzeitfilm Seolgugyeolcha (Snowpiercer, 2013) in den vorderen Teil des Zuges kämpfen, während dieser durch die apokalyptische Eislandschaft rattert, mögen zwar den Aufstand geplant haben, nicht aber eine neue Gesellschaftsordnung. Und wenn schliesslich in Parasite nach dem heftigen Unwetter, das die Souterrainwohnung der Familie unter Wasser gesetzt hat, der Vater erklärt, dass der einzige vernünftige Plan im Leben sei, keinen zu haben, mischt sich in den schwarzen Humor eine bittere Erkenntnis von Wahrheit.
Heitere Tragik
Denn trotz aller Irrationalität, mit der die Armen, Schwachen oder Unterdrückten (was meist auf das Gleiche hinausläuft) agieren, ist Bong stets auf deren Seite. In seinem Kurzfilmbeitrag Shaking Tokyo (2008) zum Omnibusfilm Tokyo! (gemeinsam mit den damals noch bekannteren Kollegen Michel Gondry und Leos Carax) erzählt er mit grosser Empathie vom Alltag eines Hikikomori, eines jeglichen Kontakt zur Aussenwelt vermeidenden Grossstädters. In Madeo (Mother, 2009) ist es der geistig beeinträchtigte Sohn der titelgebenden Mutter, dem trotz seines Verbrechens unsere Sympathie gilt. Und so trottelig die Tierschützer:innen in Okja (2017), Bongs in Cannes für Aufregung sorgender Netflix-Produktion, auch sein mögen – sie kämpfen für die gute Sache. Und sei es mit aufgespannten Regenschirmen gegen Betäubungspfeile zu den Klängen von John Denver.
Bongs Filme sind bei aller Tragik nämlich zugleich durchsetzt von komischen Einlagen. Wenn es das Riesenschwein in Okja mittels Ganzkörpereinsatz in einem Bergsee Fische regnen lässt; wenn ein Tatort in Memories of Murder für Slapstick-Momente sorgt; oder wenn sich in Parasite die Eindringlinge eine Nacht lang unter einem Sofa verstecken müssen: Das sind typische Augenblicke in Bongs Tragikomödien, in denen Heiterkeit und Schwermut oft nicht zu unterscheiden sind.
Deutlich zu erkennen ist jedoch, wer die Macht besitzt – und vor allem, wer nicht. Die Macht der Technik (eine überlebensnotwendige Eisenbahnstrecke), der Wissenschaft (ein mutierter Fleischkoloss) und der Ökonomie (eine im Luxushaus residierende Industriellenfamilie). Die Medien sind unter dem kommerziellen Druck, wie in The Host, längst zusammengebrochen oder, wie Jake Gyllenhaal als TV-Knallcharge in Okja, bis zur Lächerlichkeit korrumpiert. Für Gerechtigkeit bleibt da kein Platz, und am Ende helfen weder gewaltsamer Aufstand noch parasitäre Anpassung.
In einer skrupellosen Gesellschaft, wie Bong sie zeichnet, darf – wie das schlappohrige Schwein in Okja, das an ein verzerrtes Spiegelbild des aus Chemikalien gezeugten Monsters aus The Host erinnert – nur existieren, was kapitalistisch verwertbar ist. Weshalb die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Der in Parasite zufällig als Englischlehrer eingestellte Sohn, der alsbald seine Familie – als Kunstlehrerin, Chauffeur und Haushälterin – in das Luxushaus einschleust, nutzt bloss die Gelegenheit, die hier keine Dieb:innen, sondern eben Schmarotzer:innen macht. Doch nicht das Benehmen oder gar fehlende
Bildung wird zum Risikofaktor der Enttarnung, sondern – der Geruch. Bongs Filme sind in ihrem Kern finstere Gesellschaftsdystopien.
Die Ursachen für jene Zustände, mit denen hier bitterböse abgerechnet wird, spielen indes nur eine geringe Rolle. Stattdessen interessiert sich Bong dafür, wie die Vernachlässigten reagieren. Wie sie kämpfen, sich nwehren, versagen. Wie sie der Welt trotzen und erhobenen Hauptes untergehen. Oder am Ende einen Eisbären sehen. Wie sie das Spiel der Macht nicht durchschauen, weil sie die Regeln, nach denen gespielt wird, nie gelernt haben und dennoch glauben, gewinnen zu können. Dann stehen sie oft einfach nur da. Seine Filme hätten keine Botschaft, so Bong Joon-ho, doch das Publikum solle sich, wenn es das Kino verlässt, fühlen wie in einem feinen Regen, bei dem man nicht merkt, dass man langsam, aber sicher bis auf die Haut nass geworden ist.