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Birds of Passage

Ein Drogenmafiafilm, wie er noch nie erzählt worden ist: aus der Sicht des indigenen Volkes. Guerra und Gallego wagen sich an die Grenzen des Genres.

Text: Dominic Schmid / 22. Okt. 2018

Genrefilme befassen sich immer mit der Gesellschaft, in der sie entstehen und mit deren Vorstellung von Gemeinschaft. Das Gleiche gilt für mündlich und schriftlich überlieferte Mythen, mit denen Traditionen zementiert und als unumstösslich etabliert werden. Das Patriarchat, das Recht auf Kolonisierung von weniger weit entwickelten Gesellschaften, der Kapitalismus – alles (gut erzählte) Geschichten, an deren Wahrheitsgehalt so viele Menschen glauben oder geglaubt haben, dass sie irgendwann nicht mehr als Geschichten, sondern als Fakten galten. Birds of Passage von Ciro Guerra und seiner Partnerin Cristina Gallego ist ein Film, der diese Wesensgleichheit von Mythos und Genre nicht nur wörtlich nimmt, sondern auch dem Wort selbst grössere Macht zugesteht als den Pistolen- und Maschinengewehrkugeln, von denen in ihrem Film nicht wenige herumschwirren und allzuoft auch ihr Ziel finden.

Das Genre ist der Gangster- oder Drogenmafiafilm, der typischerweise den ewigen Zyklus von Armut, Ambition, Aufstieg, Reichtum und schliesslichem Niedergang durchexerziert. Wenn Guerro und Gallego nun bekräftigen, dem Genre etwas gänzlich Neues hinzugefügt zu haben, können sie damit also kaum die Plotstruktur gemeint haben, die auch sie genregetreu wiederholen. Überraschend ist hier die Tatsache, dass Birds of Passage die Anfänge der kolumbianischen Drogenkriege nicht aus der gewohnten Perspektive der Kartelle zeigt, sondern aus jener der indigenen Gemeinschaft der Wayúu im abgelegenen Nordosten des Landes. Mehr noch aber ist es die Inszenierung, die den eigentlich bekannten Plot um Elemente der oralen Erzähl- und Mythen­tradition anreichert und den Film als Reihe von fünf Cantos – mit Jahreszahlen zwischen 1968 und 1980 versehenen «Gesängen» – gliedert. So betont die Inszenierung, dass das Genre­kino in seinem Grundwesen in der Tradition der mündlichen Überlieferung von konstituierenden Mythen der Gemeinschaft steht.

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Birds of Passage beginnt mit einem farbenfrohen traditionellen Übergangsritual, in dem die eben erwachsen (sprich: heiratsfähig) gewordene Zaina im roten Kleid eine Art einseitigen Paarungstanz aufführt, bei dem sich die heiratswilligen Männer einer nach dem anderen nähern dürfen, sich aber auch abweisen lassen müssen. Flügelgleich breitet sich dabei ihr Kleid über die ganze Leinwand. Der ambitionierte, aber aus unbedeutender Familie stammende Rapayet will Zaina unbedingt heiraten. Zainas Mutter Ursula, die mächtige Matriarchin des einflussreichen Clans, auferlegt ihm wie im Märchen eine eigentlich unerfüllbare Aufgabe, nämlich eine horrende Mitgift mitzubringen. Sie ist überzeugt, dem Bestreben des unliebsamen Verehrers fürs Erste Einhalt geboten zu haben. Ursulas Macht beruht unter anderem auf ihren Fähigkeiten der Traumdeutung, und ihre Vision zu Zainas Hochzeit (eine direkt im Meer verschwindende Eisenbahnlinie) verheisst nichts Gutes.

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Zusammen mit seinem unberechenbaren Cousin Moisés beginnt Rapayet, einer Gruppe von Amerikanern Marihuana zu verkaufen, das er von seinen Verwandten in den unzugänglichen Bergen gleich kiloweise zu vorteilhaften Preisen erhält. Die Amerikaner sind glücklich, wollen mehr vom Stoff, der «inneren Frieden» bringen soll, und Rapayet will mehr vom Geld. Die Mitgift aus dreissig Ziegen, zwanzig Kühen und einer Kiste voll Schmuck nimmt Ursula zwar nur widerwillig in Empfang, fügt sich aber der Verheissung vom zukünftigen Reichtum. Bald schon werden es – man kennt sowohl den Mythos als auch die jüngere Geschichte Kolumbiens – statt des Reichtums Leichen sein, die die ganze Leinwand füllen.

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Wurden in Guerras vorherigem Film El abrazo de la serpiente noch die Auswirkungen des Kolonialismus auf eine technologisch, aber nicht spirituell unterlegene Gesellschaft mithilfe eines mystisch-psychedelischen Zugangs beleuchtet, ist es hier das süsse Gift des Kapitalismus, mit dem die Urbevölkerung sich quasi selbst infiziert und dabei beinahe zugrunde geht. Das Wort steht über allem, und das neue Wort heisst «Geld». Da helfen auch die Tabus nicht, die den Kontakt mit alijunas – Nicht-Wayúus – betreffen. Denn die Krankheit hat in einem Terrain von archaischen Ehrbegriffen und von Prestigedenken, das so alt ist wie die Menschheit, fruchtbaren Boden gefunden. «Wir haben unsere Seele verloren», stellt Ursula am Ende fest, als der Krieg schon fast wieder vorüber ist. Es wird der erste von vielen sein. Das prägnanteste Symbol des dekadenten Zerfalls, die moderne Villa, die Rapayet für seine Familie mitten in der Wüste hat errichten lassen und die verloren in der weiten Landschaft steht, ist da bereits zu Schutt und Asche geschossen. Die nachfolgende Generation wird es kaum richten können, denn für die Traditionen, die immerhin noch für eine gewisse innere Stabilität sorgen konnten, haben sie kaum mehr Respekt, seit diese bereits von den Eltern bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wurden. Alle Elemente, nicht nur die wiederkehrenden Breitwandkompositionen, finden in diesem Film irgendwann zu ihrem düsteren Echo. Und was sind Genrekonventionen anderes als in verständliche Formen gebrachte Echos einer sich immer und überall wiederholenden Geschichte?

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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