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Barbara

Der neue Film des deutschen Regisseurs Christian Petzold erzählt, so scheint es zunächst, eine einfache, geradlinige Geschichte. Doch die Verwicklungen, die Umwege, das Unausgesprochene, das Misstrauen sind zwischen den Bildern und in den Blicken der Figuren verborgen. Blicke, die auch etwas anderes bedeuten können.

Text: Michael Ranze / 13. Juni 2012

Der neue Film des deutschen Regisseurs Christian Petzold erzählt, so scheint es zunächst, eine einfache, geradlinige Geschichte. Es ist der Sommer 1980 in der DDR. Barbara, bis vor kurzem noch Ärztin an der Berliner Charité, wurde eines Ausreiseantrags wegen zur Strafe in ein Kreiskrankenhaus in der Provinz Mecklenburg-Vorpommerns versetzt. Schon das ausdruckslose, verhärmte Gesicht von Petzolds bevorzugter Darstellerin Nina Hoss und ihr zögerliches Aussteigen aus dem Bus zeugen davon, dass sie hier fremd ist. Nicht von ungefähr bedeutet ihr Rollenname auf griechisch «die Ausländerin». Die kleine, schäbige Wohnung, die ihr zugewiesen wird, lässt jeden Komfort vermissen. Von Beginn an begegnet Barbara ihren Mitmenschen mit Misstrauen und Zurückhaltung, sogar Ablehnung, die in Schroffheit umspringen kann. Jeder könnte ein Informant sein, jeder könnte der Stasi zuarbeiten. Ständig fühlt Barbara sich beobachtet, sogar ausgeliefert, wenn der Stasioffizier Schütz in Begleitung einer Beamtin, die sich demonstrativ Gummihandschuhe überzieht, zu demütigenden Kontrollen auftaucht. Auch der interessierten Freundlichkeit des neuen Kollegen Andre weicht sie aus, mal bestimmt, mal sarkastisch, und weil der Zuschauer Andre zu Beginn mit Schütz über Barbara hat sprechen sehen, legt sich eine Unsicherheit über den Film: Ist ihm zu trauen? Oder ist er ein Informant? Barbara ist eine Frau, die mit allem abgeschlossen hat, die sich im Übergang befindet zwischen Vergangenheit und Zukunft und darum mit der Gegenwart hadert. Mit Jörg, ihrem westdeutschen Freund, plant sie die Flucht über die Ostsee nach Dänemark. Die notwendigen D-Mark für die Vorbereitungen versteckt sie hinter einem Kreuz, eine Geste, die Nina Hoss schon als Laura in Jerichow vormachte, als sie Banknoten unter einer Rampe verstaute. Barbara versteckt ihr Geld heimlich wie ein Kind, das einen Schatz vergräbt. Wie schon zuvor in Yella und Jerichow bedingen auch in Christian Petzolds neuem Film Liebe und Geld einander. Das eine scheint ohne das andere nicht möglich.

Barbara wendet ihre ganze Aufmerksamkeit und Menschlichkeit ihren kleinen Patienten in der Kinderchirurgie zu. Stella zum Beispiel. Sie war aus einem Erziehungsheim geflüchtet, hatte sich sechs Tage lang unter freiem Himmel versteckt und war mit einem gefährlichen Zeckenbiss eingeliefert worden. Damit nicht genug: Stella, dieser einsame Stern, ist schwanger. Barbaras Perspektive verschiebt sich. Sie wird gebraucht, und zwar hier, und Andre verwirrt sie mit seiner Hilfsbereitschaft, seiner Fürsorge, seiner Aufmerksamkeit, seiner Professionalität. Und seinem Lächeln. Stella und Barbara kommen sich beim nächtlichen Vorlesen von Mark Twains «Huckleberry Finn», noch so einer Geschichte vom Anderssein und Weggehen, immer näher. Dann sagt Jörg bei einem nächtlichen Treffen im Interhotel einen fatalen, angesichts von Barbaras Beruf und Berufung erschreckenden Satz: «Wenn wir verheiratet sind, musst du nicht mehr arbeiten.» Barbara schweigt, doch der Zuschauer weiss, dass dies nicht die Zukunft ist, die sie sich ausgemalt hatte.

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Eine einfache Geschichte, wie gesagt. Doch die Verwicklungen, die Umwege, das Unausgesprochene, das Misstrauen sind zwischen den Bildern und in den Blicken der Figuren verborgen. Blicke, die auch etwas anderes bedeuten können. Zu einer zentralen Szene des Films gerät darum Andres Interpretation von Rembrandts 1632 entstandenem Gemälde «Anatomie des Dr. Tulp». Sieben Mitglieder der Amsterdamer Gilde der Barbiere und Chirurgen sehen Dr. Nicolaes Tulp dabei zu, wie er einen toten Strassenräuber seziert. Doch der aufgeschnittene, linke Unterarm mit angehobenem Muskel ist proportional viel zu gross geraten. Rembrandt zeigt dem Betrachter des Gemäldes nicht den “echten” Arm, sondern das, was die sieben Männer in dem ausgebreiteten, dicken Lehrbuch der Anatomie am rechten Bildrand sehen. Der Betrachter sieht nicht die Realität, sondern eine Abbildung davon. Der Blick hat sich verschoben, und diese Verschiebung zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Da sind die beobachtenden, misstrauischen, schmalen Blicke des Stasioffiziers, meist aus der Distanz und von oben, die in einer Szene bei einem ärztlichen Notfall etwas Hilf- und Rastloses bekommen; da sind die neugierigen, amüsierten Blicke Andres, die aber auch, in einer von Ronald Zehrfeld wundervoll gespielten Ambivalenz, etwas Forschendes und Durchdringendes haben könnten. Und da sind die ausdruckslosen, kühlen Blicke Barbaras, die Abwehr signalisieren, aber auch die Hoffnung auf ein anderes Leben enthalten. Christian Petzold entlockt seinen Darstellern nicht nur die gewünschten Gesten und Blicke, er fängt sie auch so subtil und raffiniert ein, dass der Zuschauer – wie jene Männer in Rembrandts Gemälde – zu einer anderen Sichtweise auf die Dinge verleitet wird.

Petzold stellt noch andere Bezüge her, die seine Geschichte immer sanft unterstützen, ohne aufgesetzt oder zu verkopft zu wirken. So schenkt Andre Barbara Turgenjews «Aufzeichnungen eines Jägers», in denen es, verbunden mit Naturschilderungen, um das Leben und die Nöte von Bauern geht. Endlich kann Barbara auf ihrem Klavier, das Andre gegen ihren Willen hat stimmen lassen, Chopins Nocturne in g-Moll Opus 15 No. 3 spielen, ein romantisch-lyrisches Klavierstück, das eine ganz eigene, unbestimmte Sehnsucht auslöst. Und dann bereitet Andre mit Zutaten aus seinem Garten eine Ratatouille vor, deren Name und Rezept von fernen Horizonten kündet. Nur weg aus diesem Land.

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Petzold hat die stereotype Sichtweise auf die DDR, in zahlreichen deutschen TV-Filmen der letzten Jahre immer wieder paraphrasiert, vehement entschlackt. Statt grauer Patina etabliert er eine farbenfrohe Lebendigkeit, die sich nicht nur im satten Grün der Landschaft, den blühenden Sonnenblumen, sondern auch im fast schon übertriebenen Rot einer Verkehrsampel und eines Rücklichts oder im Blau eines Überlandbusses und Barbaras Kleidung widerspiegelt. Eine heimelige Wärme strahlen diese Farben aus, die sich dem Klischee des kalten, verstaubten, abgewirtschafteten, ermatteten Staates verweigern. Statt furchteinflössender Grenzübergänge oder der unüberwindlichen Mauer zeigt Petzold einen “normalen” Ort ohne symbolträchtige Insignien, die immer gleich zur Entschlüsselung nötigen. Die offene Landschaft – Barbara durchmisst sie mal mit dem Fahrrad, mal mit einem Triebwagen – vermittelt zumindest eine Ahnung von Freiheit, vielleicht sogar Abenteuer. Diese Lebendigkeit spiegelt sich auch auf der Tonspur mit all ihren Klängen und Geräuschen wieder, die das Geschehen kommentieren und unterstreichen. Das Rauschen des Windes, das Ticken einer Wohnzimmeruhr, das Vorfahren eines Wagens lassen sich als Wildheit, Langeweile oder Gefahr übersetzen. Petzold macht die DDR in all ihren Facetten sinnlich greifbar. Er erzählt, wie in seinen vorangegangenen Filmen seit Die innere Sicherheit, vom Privaten, um auch das Politische zu meinen. Er deutet auf den Unterdrückungsstaat der DDR mit Ausreiseverbot und Stasi-Überwachung, um dann aber von den Folgen für die Menschen zu erzählen. Barbara ist ein Film über Hoffnung und Freiheit, über Misstrauen und Loyalität, über private und berufliche Verantwortung. Vor allem aber ist Barbara eine wundervolle Liebesgeschichte, die ganz vage beginnt, um dann in lakonische Scharmützel zwischen Mann und Frau zu münden, die sich Petzold bei Howard Hawks abgeschaut hat. Endlich gewinnt Barbara ihr Lächeln zurück, weil sich alles so wundersam fügt und sie das Meer sowieso nicht leiden kann. Als Zuschauer ist man geradezu erleichtert.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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