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Au sud des nuages 2

Au sud des nuages

Es gibt einen Satz von Boris Vian, der da lautet: «Die Schweizer gehen zwar zum Bahnhof, aber sie fahren nicht weg.» Amiguet legt mit Au sud des nuages jetzt einen Film vor, der die These weitgehend bestätigt.

Text: Walt R. Vian / 01. Feb. 2004

Figuren, die in der Landschaft stehen und zusehen, wie Züge vorbeifahren, waren irgendwie bezeichnend für die Spielfilme der Groupe 5. Zumindest Michel Soutter und Alain Tanner brachten damals einen – allenfalls irritierenden – Satz von Boris Vian ins Gespräch, der da lautet: «Die Schweizer gehen zwar zum Bahnhof, aber sie fahren nicht weg.»

Jean-Francois Amiguet sagte zwar kürzlich, er habe diese Aussage nie verstanden, denn wo immer er sich in der grossen weiten Welt bewege, treffe er auch auf Schweizer, legt aber dennoch mit Au sud des nuages jetzt einen Film vor, der die These – wenn auch über einen Umweg – weitgehend bestätigt. Die hausgemachte Confiture, mitgebracht aus der Schweiz, schmeckt gerade in Peking am besten – und spendet auch Trost.

Angesichts der Chinesischen Mauer zog Adrien die Nachtblende in seinem Zugabteil, um mit sich allein zu bleiben. Die Weite Sibiriens verleitete die reisenden Schweizer nach einem Blick aus dem Zugfenster gerade mal zum erschöpfenden Wortwechsel: «Wie bei uns.» «Vor dreissig Jahren.» Willy fand immerhin noch den in einem Moskauer Nachtclub dargebotenen Striptease besser als denjenigen in Sion, bevor er wieder nach Hause flog. Sein Bruder Lucien hatte die Reise bereits in Berlin abgebrochen – weil sein Hund zu Hause vermisst wurde. Und in Berlin die Mauer? «Was sieht man: Auch nur eine Mauer.»

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Die vier wortkargen Walliser Bergler steigen zwar ein in einen Zug, aber sie lassen nie wirklich los. Ohne Jasskarten und Weisswein geht da gar nichts. Die lange Reise ist demnach bestenfalls eine Reise zu sich selbst, zu den eigenen Gefühlen. Allerdings gilt auch, was Jean Renoir im Umfeld von La grande illusion sagte: Ein französischer Bauer versteht den chinesischen Bauer, obwohl er dessen Sprache nicht spricht, besser als einen französischen Intellektuellen. Die Jagd wickelt sich in der Mongolei genauso wortlos ab wie daheim, ein Jeep, vier, fünf Männer mit Gewehr, ein Grat- das Ziel im Visier. Adrien versteht sich mit den mongolischen Jägern jedenfalls besser als mit dem Neffen von Leon, der damals nach Genf gezogen ist, weil er keine Berge und keinen Schnee mag, einen anderen Lebensentwurf gewählt hat und nur als Ersatz in die Reisegruppe eingedrungen ist. Seine Frage: «Wolltest du nie heiraten?» wird mit der Gegenfrage beantwortet: «Wo sind die Toiletten?» – ein charakteristischer Wortwechsel zwischen den beiden, die sich dennoch mit der Zeit näher kommen. Rogers Vorwurf lautet: «Du kümmerst dich nicht um andere, bist ein Wilder geworden da oben in den Bergen.»

13 240 Franken 35 Rappen waren nach drei Jahren in der gemeinsamen Kasse – durch was sie geäufnet wurde, bleibt ausgespart – , als Leon vorgeschlagen hat, eine Reise mit der Transsibirischen zu machen, statt des scheinbar gewohnten Abstechers in ein Puff in Amsterdam. Bis nach Peking kommt allerdings nur Adrien. Vergleichbar dem Muster, das mit der Reise gezeichnet wird, war auch der Lebensweg von Adrien. Verlust um Verlust musste er hinnehmen, irgendwie wegstecken, ohne die Würde zu verlieren. Verwöhnt wurde er nie; verwöhnt hat er sich me.

Leon, mit dem er aus Peking telefonieren will, ist am Tag nach seiner Rückkehr ins Wallis gestorben. Adrien vergisst beinahe den Rucksack in der Telefonzelle, geht achtlos durch die Strassen, ordnet im Hotel die Kleider fein säuberlich auf dem Bett, greift in den Rucksack, packt das mitgebrachte Päckchen aus, öffnet den Verschluss, greift mit dem Zeigefinger ins Glas – und lässt sich die Confiture auf der Zunge zergehen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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