FB Stimmt es, dass am Anfang dieses Filmprojektes [Caché] Ihr Wunsch nach einer Zusammenarbeit mit Daniel Auteuil stand?
MH Das war das auslösende Moment. Er hat etwas, das ich besonders faszinierend finde – er bewahrt immer eine Art von Geheimnis, egal, welche Rolle er spielt, er hält etwas zurück, was ihn mit dieser Aura umgibt und was ich früher auch bei Jean-Louis Trintignant gesehen habe. Einen Charakter dieser Art wollte ich hier kreieren. Zum anderen hatte ich seit langem eine vage Vorstellung, jemanden mit einer Tat aus seiner Kindheit zu konfrontieren: Kinder hält man im Allgemeinen für naiv und freundlich und deswegen für nicht schuldfähig – was dem Erwachsenen, wenn er mit der Tat konfrontiert wird, die Ausrede leichter macht. Wir leben ja vis-à-vis der Realitäten der Welt mit permanent schlechtem Gewissen und tun nichts anderes, als fortwährend Ausreden für uns zu erfinden. Das war die Grundidee, aber ich hatte keine Geschichte dazu, bis ich dann durch Zufall auf Arte eine Dokumentation über die Ereignisse von 1961 sah. Das war ein auslösendes Moment, und ich dachte mir, das müsste funktionieren, denn im Hinblick auf Auteuils Alter ging es wunderbar auf. So habe ich begonnen, die Geschichte zu konstruieren. Die Konstruktion ist das eigentliche Handwerk. Sie können einen Roman schreiben und noch nicht wissen, wie er ausgeht, dafür gibt es ja berühmte Beispiele. Wenn ein Roman Längen hat, dann machen Sie eben eine Lesepause – wenn der Zuschauer sich im Theater oder im Film langweilt, dann verlieren Sie ihn. Das heisst, Sie müssen beim Schreiben in jeder Phase die Reaktion des Zuschauers mitbedenken. Entsprechend muss man die Konstruktion entwerfen. Das Drehbuchschreiben ist die Hauptarbeit, das Szenenschreiben ist das, was Spass macht, Dialoge schreiben ist das Lustvolle. Was mühsam ist, ist die Konstruktion. Da sitzt man schon mal ein paar Wochen und popelt herum.
FB Dem Zuschauer verweigern Sie am Ende die Auflösung des Rätsels. Wie weit müssen Sie für sich selbst dem Rätsel ein Stück weit auf die Spur kommen?
MH Das ist für mich überhaupt nicht rätselhaft. Es gibt ja auch die Szene am Ende, wo die Söhne von Georges und Majid sich auf den Stufen vor der Schule unterhalten. Da gab es einen Text, den ich geschrieben habe, sie mussten ja etwas zum Spielen haben. Aber ich werde mich hüten, Ihnen den zu verraten. Denn ich bemühe mich ja immer in all meinen Filmen – manchmal gelingt es besser, manchmal weniger – sie offen zu halten für die Interpretation durch den Zuschauer. Ein Film muss wie eine Sprungschanze sein: Ab dem Moment, wo der Film zu Ende ist, muss der Zuschauer springen, da soll er die Arbeit zu Ende machen. Das wäre das Ideal, dass der Film (oder auch das Theaterstück oder der Roman) so gestaltet ist, dass der Rezipient seinen Teil dann zu erledigen hat. Denn wenn ich all die Fragen, die ich stelle, auch beantworte, habe ich den Film in dem Moment, wo ich aus dem Kino komme, schon wieder vergessen. Ausserdem: Ich weiss gar keine Antworten. Wenn die Frage lautet: «Wer hat die Videokassetten geschickt?», dann sage ich: Das können Sie sich aussuchen. Ich habe die unterschiedlichsten Antworten gehört und kann nur sagen: jeder hat Recht. Denn ich habe es ja so konstruiert, dass man es auf verschiedene Weise lesen kann. Aber was würde es ändern, wenn der Sohn von Majid im Waschraum sagen würde: «Klar habe ich die Kassetten geschickt.» Was würde das am Film ändern? Gar nichts.
FB Sie haben einmal geäussert, «der Suspense ist der Leim, auf dem die Zuschauer kleben bleiben». Sie betreiben also eine Verweigerungshaltung gegenüber den Erwartungen der Zuschauer?
MH Es ist nicht unbedingt eine Verweigerung. Was tut ein Film? Im besten Fall kann er Fragen stellen, nachdenklich machen. Fragen kann ich nur effizient machen, wenn ich sie nicht gleich beantworte. Die Beantwortung einer Frage ist ja immer die scheinbare Lösung, davon lebt ja das Genrekino, das Mainstreamkino: die Welt als beschreibbar und dadurch verbesserbar und sogar lösbar zu zeigen – was die grosse Lüge ist, für die wir viel Geld zahlen, denn wir wollen ja gern behaust sein und sagen, eigentlich ist ja alles in Ordnung. Wenn Film aber eine Kunstform sein will, muss er zumindest versuchen, den Dingen mit ein bisschen Wahrhaftigkeit auf den Grund zu gehen. Man kann nicht so tun, als gäbe es die Antworten. Wenn es die Antworten gäbe, dann würde die Welt nicht so ausschauen, wie sie ausschaut. Dass sie wissen, wie es geht, behaupten immer nur die Politiker – oder schlechte Filmemacher.
FB Auf Ihre Art haben Sie den Zuschauer genauso stark im Blick wie das Hollywood-Kino …
MH Ja, sicher. Film vergewaltigt ja immer. Das habe ich schon einmal gesagt, ich vergewaltige den Zuschauer auch, aber zur Selbständigkeit. Ich zwinge ihn irgendwie, selbständig zu denken. Sobald Sie einen Film machen, kommen Sie gar nicht umhin, den Zuschauer zu manipulieren. Allein schon, wo Sie die Kamera hinstellen ist eine Manipulation des Blicks. So funktioniert Kino, und da kommen Sie gar nicht drum herum. Das Entscheidende ist, dass ich dem Zuschauer das aber sichtbar machen sollte. Das ist das, was ich immer versuche, das Selbstreflexive im Film mitzuliefern.
FB Kann man das als ein pädagogisches Moment bezeichnen?
MH Es hat nicht mit Pädagogik, sondern mit Respekt zu tun. Ich finde, man sollte den Zuschauer für genauso neugierig und intelligent und leicht langweilbar halten wie sich selbst. Ich möchte Filme machen, die mich, wenn ich ins Kino gehe, auch nicht beleidigen würden, die vielmehr mit meiner Intelligenz und meiner Empfindsamkeit arbeiten. Ich denke, dass jeder Zuschauer dazu in der Lage ist. Das ist das Gegenteil des Pädagogischen. Pädagogisch ist, wenn ich jemandem sage, wo es langgeht. Das weiss ich aber selbst nicht. Ich will nur, dass er sich selber so intensiv fragt, wie ich mich frage. Wenn Sie das pädagogisch nennen, dann können Sie die gesamte dramatische Literatur seit den alten Griechen als pädagogisch bezeichnen. Das ist ähnlich, als wenn man sagt, «Sind Sie ein Moralist?» Diese Frage höre ich auch oft. Natürlich handelt Kunst auch von moralischen Fragen, aber Moral ist heute schon ein Schimpfwort. In dieser faden Gesellschaft ist jemand, der sich mit moralischen Fragen beschäftigt, schon ein Opa von vorgestern. Dann sage ich: Ich habe nichts dagegen, wenn mich jemand als Moralist bezeichnet – gegen die Bezeichnung «Pessimist» allerdings schon. Pessimisten halten den Zuschauer für so blöd, dass man ihm das Geld leicht aus der Tasche ziehen kann.
Dieses Interview mit Michael Haneke erschein in Filmbulletin Nr. 9/05 im Zusammenhang mit dem Film Caché zum ersten Mal. Im Zusammenhang mit dem Streaming von Amour im Rahmen des Filmbulletin Club wurde es 2024 neu digital aufbereitet.
FB Nochmal zu der Frage mit den Zuschauern. Hollywood hat da ja ein kompliziertes System mit Previews entwickelt. Gibt es für Sie ebenfalls eine Kontrollinstanz oder sind Sie sich immer ganz sicher, wie etwas funktioniert? Würden Sie im Rückblick auf Ihre Filme sagen, bei dem Film habe ich einen Fehler gemacht?
MH Bei jedem Film habe ich einen Haufen Fehler gemacht, das geht gar nicht anders. Ich glaube, Sie werden keinen Regisseur finden, der nicht auch seine Fehler sieht, wenn er seine Filme betrachtet, es sei denn, er ist ein Dummkopf. Ich sehe nur meine Fehler in meinen Filmen, wenn sie fertig sind, aber ich glaube, das ist völlig normal. Wenn ich ein Buch schreibe, gebe ich es schon ein paar Leuten zu lesen, deren Urteil mir wichtig ist. Meine Frau ist immer die erste, die die Sachen liest. Sie hat Gott sei Dank mit Film nichts zu tun, sondern ist ein sogenannt normaler Zuschauer. Und sie sagt immer ganz genau, wo etwas falsch ist, wo sie etwas nicht verstanden hat, wo es langweilig ist. Ihr zeige ich auch als erstes den Rohschnitt, und sie hat noch immer Recht gehabt, nicht weil ich sie für unfehlbar halte, im Gegenteil, aber sie hat so das normale Zuschauerempfinden. Das ist ganz wichtig, dass man jemanden hat, dem man vertrauen kann. Wenn jeder dieser Vertrauten etwas anderes sagt, dann ändere ich gar nichts. Aber wenn mehrere Leute den gleichen Punkt benennen, dann muss etwas dran sein. Dann denke ich noch einmal nach und versuche, da eine andere Lösung zu finden.
FB Caché erzählt aus der Perspektive der von Daniel Auteuil verkörperten Figur. Trotz der Einsicht, dass vieles von dem, was er macht, falsch ist, kann man sich mit ihm identifizieren …
MH Das versuche ich, sonst bleibt der Zuschauer nicht dran. Das unsympathische Verhalten, das die Figur zweifellos hat, darf ein gewisses Mass nicht überschreiten, weil der Zuschauer sonst aussteigt. Ich glaube schon, dass man am Ende des Films denkt, er hat sich eigentlich beschissen benommen, aber gleichzeitig denkt man, «ich benehme mich eigentlich auch beschissen». Denn wenn er am Schluss seine zwei Schlaftabletten nimmt, um besser schlafen zu können, folgt zwar ein Albtraum, aber das ist ja unsere Art, wie wir alle mit unserem schlechten Gewissen umgehen. Der eine nimmt Schlaftabletten, der andere trinkt, der dritte arbeitet wie ein Geisteskranker, der vierte spendet etwas für irgendwelche karitativen Institutionen, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, und lebt in Wirklichkeit so weiter, wie er gern leben will. Majid sagt in der grossen Szene zwischen den beiden: «Was würde man nicht alles tun, um nichts zu verlieren?» So denken wir ja letztendlich alle. Das wollte ich auch schaffen, so eine Form von Identifikation, wo man am Schluss sagt, er ist eigentlich so sympathisch wie wir alle.
FB Seit Code inconnu (2000) sind Ihre Filme in Frankreich mit französischen Schauspielern und in französischer Sprache entstanden.
MH Das Positive dort ist, dass es viel mehr Auswahl gibt. Wenn es bei uns in der Branche zwei gute Tonmeister gibt, gibt es dort zehn. Das ist das Angenehme, und die Leute dort sind es gewohnter, Film zu machen. In Österreich werden zehn Filme im Jahr gemacht, dort 180 bis 200, die Leute haben also eine andere Routine. Film lernt man ja nur beim Machen. Mir sind auch keine Ressentiments entgegengeschlagen, schwierig war es für mich, weil es nicht meine Muttersprache ist. Ich kann mich ganz vernünftig ausdrücken, aber beim Hören ist es etwas anderes – bei der Fremdsprache muss man hinhorchen, um die Nuancen zu verstehen. Da ist ein guter Tonmeister wichtig, dem ich vertraue. Wenn die Emotion falsch ist, dann höre ich das, aber ob eine Betonung richtig ist … Das macht die Arbeit anstrengender, weil man mehr aufpassen muss. Das ist, wie wenn Sie in einem fremden Land in einem Restaurant sitzen, wo fünf Leute durcheinander reden. Im eigenen Land kriegt man trotzdem alles irgendwie mit, was geredet wird.
FB Sie haben gesagt, dass Sie die Rolle für Daniel Auteuil geschrieben haben. Wie war das bei Juliette Binoche in diesem Film?
MH Ebenfalls so. Und auch bei Maurice Benichou. Es haben ja fast alle schon einmal bei mir mitgespielt. Benichou war in Code inconnu der alte Araber. Walid Afkir, der hier seinen Sohn spielte, war damals der junge Araber, der Binoche anspuckt. Der hat sich natürlich in der Zwischenzeit sehr verändert. Daniel Duval hat in Le temps du loup mitgespielt, Nathalie Richard in Code inconnu. Bis auf Bernard Le Coq, der den Fernsehchef spielt, und Auteuil haben alle schon einmal in einem von meinen drei vorhergehenden französischen Filmen mitgespielt. Das wird auch weiterhin so sein.
FB Das klären Sie schon zu Beginn des Drehbuchschreibens?
MH Ja, wenn ein Stoff anliegt, überlege ich mir, wie viele Personen ich brauche, um die Geschichte zu erzählen, und entwickle dann eine Figur, für die ich eine gute Besetzung habe. Als ich Code inconnu schrieb, kannte ich noch nicht sehr viele gute französische Schauspieler, deshalb habe ich dann die Rolle des Bauern mit Sepp Bierbichler besetzt, einfach, weil ich niemanden gefunden habe, der adäquat gewesen wäre, und weil ich den Sepp auch besonders toll finde. Aber in diese Lage komme ich ungern – suchen zu müssen, wenn es sich vermeiden lässt. Wenn man nur Regisseur ist, ist man ja immer gezwungen, seine Leute zu suchen, aber wenn man selbst schreibt, kann man gleich für die schreiben, die man mag.
FB Isabelle Huppert und Juliette Binoche haben Sie mehrfach in Hauptrollen besetzt …
MH Sie haben gemeinsam, dass sie beide gute Schauspielerinnen sind. Ich kenne eigentlich keine Schauspielerin, die gleichzeitig so intellektuell und gleichzeitig so emotional ist wie Isabelle. Ich kenne überhaupt kaum einen Schauspieler, der so intellektuell ist wie sie. Sie ist eine hochgebildete Frau und gleichzeitig von einer ungeheuren Sensibilität. Und Juliette ist eine unglaublich sensible Schauspielerin, hat aber so etwas total Gesundes. Meistens haben ja sensible Leute ein bisschen etwas Neurotisches – Juliette dagegen ist komplett unneurotisch, die hat etwa ein Lachen wie ein Bierkutscher, das finde ich hinreissend. Ich glaube, das ist auch eines der Hauptingredienzien ihres Erfolgs, weil die Leute das lieben, diese Gesundheit, die gepaart ist mit einer grossen Empfindsamkeit.
FB Sind Ihre Filme weitgehend identisch mit dem Drehbuch?
MH Ja.
FB Das heisst, im Schneideraum gibt es keine grundsätzlichen Änderungen?
MH Das geht sehr schnell, in drei Wochen ist der Film geschnitten. Nur der Tonschnitt dauert lange, da tüftle ich herum, dafür habe ich ein Faible, das ist mir extrem wichtig. Ich drehe auch immer nur diese eine Variante, die ich machen will, also nicht wie die Amerikaner, die verschiedene Alternativen aufnehmen. Diese eine Variante wird so oft gedreht, bis sie so gut ist, dass ich sie verkaufen kann.
FB Das dauert manchmal schon länger …
MH Stimmt. Ich drehe eine Szene oft, und das kann manchmal ein wenig mühsam sein, denn gerade so lange Plansequenzen wie in Code inconnu sind sehr schwierig: Die Eröffnungsszene benötigte 200 Statisten, das kann man nicht so hopp hopp machen, das muss man probieren, probieren, probieren und dann drehen, drehen, drehen. Denn irgend so ein Idiot macht sicher einen Fehler. Wenn man dann schon in der achten Minute ist, kann man das alles wegschmeissen und wieder von vorne anfangen.