Eine der letzten Szenen von The Wonder Way spielt sich im «House of the Lord Jesus» ab, einer kleinen Kirche in einem 300-Seelen-Dorf in West Virginia. Rund ein Dutzend Personen haben sich dort für einen sogenannten «Snake Handling Service» versammelt; einen Gottesdienst, bei dem die Teilnehmer:innen ohne jegliche Schutzausrüstung Giftschlangen berühren, um so ihren Glauben an Gott unter Beweis zu stellen. Der Pastor schreit christliche Lieder in ein Mikrofon, während eine ältere Frau auf ein Schlagzeug hämmert, ein junger Mann eine Klapperschlange um den Arm hält und sich die Gemeinde tanzend durch den Raum bewegt.
In dieser Szene zeigt sich der Betrachterin – in einem gemütlichen Kinosessel sitzend, umgeben von weiteren Festivalbesucher:innen der 54. Ausgabe des Visions du Réel – das Kernthema von The Wonder Way: Wir Menschen teilen uns zwar alle dieselbe Erde, doch um in andere Universen zu gelangen, braucht man den Planeten nicht zu verlassen. Manchmal reicht ein Gang durch den dschungelartigen Obstgarten eines Apfelsorten-Sammlers, ein Besuch von Noah Purifoys Desert Art Museum mitten in der kalifornischen Wüste oder die Teilnahme an einem Snake-Handling-Gottesdienst, um in ein komplett anderes Universum einzutauchen.
Die genannten Orte sind nur drei der Zwischenstopps, die Emmanuelle Antille auf ihrer 96-minütigen Reise durch verschiedene von Menschen erschaffene, entdeckte oder erdachte Universen macht. «C’est un film qui parle de la création», kommentiert Antille im Gespräch nach der Weltpremiere. Eine Aussage, die an eine Stelle aus dem Film anknüpft, bei der sie aus dem Off sagt: «Wir sind mit der Welt, wie wir sie sehen, nicht immer zufrieden; deshalb erschaffen wir uns andere Welten.»
Die Videokünstlerin und Filmemacherin aus Lausanne, die auch als Professorin an der HEAD in Genf tätig ist, hat in den letzten 25 Jahren verschiedene Videoinstallationen und Spielfilme realisiert. Ihr erster Dokumentarfilm A Bright Light – Karen and the Process wurde 2018 an den Visions du Réel uraufgeführt und erhielt 2020 beim Festival Dock of the Bay in San Sebastián den Preis für den besten Musikdokumentarfilm. Mit «The Wonder Way» ist Antille nun zum zweiten Mal in Nyon zu Gast, diesmal im Rahmen des nationalen Wettbewerbs.
Es sei kein gewöhnlicher Fernsehfilm, meint einer der Produzenten vor der Filmaufführung – und er hat recht. Insbesondere was die Form betrifft, ist «The Wonder Way» durch viel Experimentierfreude und freie Assoziationen geprägt. Poetische Aufnahmen überschneiden sich, verschwimmen, und werden kurz darauf durch klassisch dokumentarische Szenen abgelöst, bei denen die Protagonist:innen vor der Kamera Einblick in ihre jeweiligen (Lebens-)Räume geben.
Die formale Freiheit zeigt sich auch akustisch: Tonspuren aus Archivmaterial wechseln sich ab mit Antilles Stimme aus dem Off, Gesprächssequenzen aus den Interviews mit den Protagonist:innen und die sphärischen Sounds, die vom Schweizer Musiker Christian Pahud komponiert wurden. Die Klänge ziehen sich durch den ganzen Film, halten das Werk zusammen und schaffen ein eigenes, neues Universum innerhalb des Films. Oder um es mit Antilles Worten zu sagen: «Le film est un territoire en soi.»
Der Beitrag entstand im Rahmen einer Exkursion des MA Kulturpublizistik der ZHdK ans Filmfestival Visions du Réel in Nyon.