Er habe vorher noch nie einen Dorayaki ganz aufessen können, verrät Sentaro seiner Mitarbeiterin Tokue – aber erst nach einer guten halben Stunde Filmlaufzeit und nachdem An ausführlich erzählt hat, wie Sentaro und Tokue gemeinsam das aus Eierteig und Bohnen bestehende traditionelle japanische Gebäck herstellen. Früher hatte Sentaro Instantbohnenmus aus dem Grosshandel verwendet; als er jetzt zum ersten Mal in einen Dorayaki beisst, der mit Tokues handgemachter Süssspeise gefüllt ist, ist er restlos begeistert. Er halte eigentlich nicht viel von den gefüllten Fladen, aber «das hier ist das Beste, was ich jemals gegessen habe».
Tokue, eine bald achtzig Jahre alte Frau, die einen Aushilfsjob bei Sentaro angenommen hat, gibt sich mit diesem Lob nicht zufrieden. Warum stellt er überhaupt Gebäck her, wenn es ihm nicht schmeckt? Es dauert dann noch einmal deutlich länger, bis sie (und mit ihr das Publikum) eine Antwort erhält. Naomi Kawase lässt sich viel Zeit in ihrem neuen Film, und vor allem lässt sie auch ihren Figuren Zeit: Langsam nur, bruchstückhaft und bis zum Schluss nicht vollständig, geben sie ihre Geheimnisse preis.
Das gilt nicht nur für Sentaro, der, wenn er nicht in seiner kleinen Imbissbude Gebäck verkauft, ein fast schon mönchisch zurückgezogenes Leben zu führen scheint (und dabei dem Alkohol allerdings nicht abgeneigt ist), sondern auch für Tokue, die für ihr Alter zwar noch ausnehmend rüstig ist, aber stets, wenn sie auf ihre mit roten Narben übersäten Hände angesprochen wird, das Thema zu wechseln versucht; und ausserdem für die Schülerin Wakana, eine Stammkundin des Ladens, der Sentaro zu Bruch gegangene Gebäckstücke nach Hause mitgibt und die fast den gesamten Film über in einer mitfühlenden Beobachterrolle bleibt.
Was allerdings von Anfang an klar ist: Alle drei sind Aussenseiter der japanischen Gesellschaft, sind auf jeweils unterschiedliche Art verlorene Gestalten. Bei zweien der drei gibt es, stellt sich im Lauf des Films heraus, in ihrer Vergangenheit etwas, das in anderen Filmen ein «dunkles Geheimnis» wäre. Kawase aber ist die Sensationslust ebenso fremd wie das moralische Urteil. Stattdessen ist sie stets bedingungslos empathisch. Insbesondere Tokues Geschichte transformiert den Film in seiner zweiten Hälfte komplett, entfernt ihn aus der relativen Sicherheit des Dorayaki-Imbisses, konfrontiert ihn mit einer anderen, verdrängten Realität.
An ist die erste Regiearbeit Kawases, die nicht auf einem Originaldrehbuch, sondern auf einer literarischen Vorlage (dem gleichnamigen Roman Durian Sukegawas) basiert. Ausserdem gelang der Regisseurin mit ihrem Film in ihrer japanischen Heimat ein kleiner und für sie seltener Kassenerfolg. In der Tat ist An durchaus, und vermutlich nicht nur in Japan, arthousekompatibel: Es geht (unter anderem) ums Älterwerden, um Slow Food und die Vorzüge des Handgemachten. Der Tonfall ist zumindest streckenweise nostalgisch, und anders als in einigen ihrer vorherigen Spielfilme verzichtet die Regisseurin auf erzählerische Experimente und auch auf emotionale Exzesse.
Freilich muss man aus all dem keineswegs einen Vorwurf konstruieren. Im Kern, in seinem offenherzigen Blick auf zutiefst verletzliche Figuren, in seinem Auge für die zufälligen Schönheiten der physischen Welt, auch in seinem ambivalenten, zwar grundlegend skeptischen, aber nie denunziatorischen Bezug auf die urbane Moderne ist An ein Kawase-Film durch und durch. Und zwar einer der schönsten. Es gibt zwar einen Hang zum Sentimentalen, der neu ist in ihrem Werk; aber auch die tränenseligen Szenen in der zweiten Filmhälfte bleiben stets im unaufgeregten Rhythmus der Montage sowie in konkreten Gesten der (durchweg grossartigen) Darsteller verwurzelt. Besonders schön ist eine letzte gemeinsame Mahlzeit der drei, in der kaum etwas gesprochen werden muss, da die Art, wie Speisen serviert und verzehrt werden, schon ausreicht, um alle Herzen überlaufen zu lassen.
Das vermeintlich kleine Format des sanft melodramatischen Alltagsdramas scheint wie geschaffen für eine Regisseurin, die in einigen älteren Filmen von ihren eigenen Ambitionen erdrückt zu werden drohte. Wo in früheren Spielfilmarbeiten Kawases gelegentlich ein Hang zu kitschnaher Natursymbolik und esoterischem Geraune mit den Bildern durchzugehen schien, bleibt die Regie hier – zumindest bis zu einigen auf ihre Weise auch wieder hinreissend kitschigen Naturimpressionen kurz vor Schluss – konzentriert und im besten Sinn bodenständig. Und es gelingt dem Film dennoch, die aus kleinen, lebendigen Alltagsbeobachtungen zusammengesetzte Erzählung auf einen überindividuellen, kosmologischen Horizont hin zu öffnen. Kawase braucht dazu nicht mehr als ein paar Kirschbäume, die vor dem Fenster des Imbisses gepflanzt sind; und die zu Beginn, im Frühjahr, in prächtig-weisser, hoffnungsfroher Blüte stehen, im Sommer ein sattes, zufriedenes Grün in den Film hineintragen und schliesslich im Herbst, wenn in Tokues und Sentaros Geschichte die Vergangenheit aufbricht, das bunte Laub verlieren. Die Blätter der Bäume winken uns zu, meint Tokue einmal.