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Schatten der liebe 3

«Alle Geschichten sind schon erzählt»

«Ich wollte nicht von der grossen Liebe erzählen, sondern von ihren Schatten, den Gedanken, Illusionen, Projektionen. Ich glaube gern, dass dem Publikum bei solchen Klischee-Sätzen die Haare zu Berge stehen können. Aber dieses Gefühl liegt recht nahe bei dem, was ich auslösen möchte.»

Text: Michael Sennhauser / 01. Okt. 1992

FILMBULLETIN: Wie kommt ein Schweizer, der seinen ersten Langspielfilm realisiert, zu so einer bestandenen Crew, mit einem Produzenten vom Format eines Rudolf Santschi, einem erfahrenen Kameramann wie Rainer Klausmann oder Georg Janett als Cutter?

CHRISTOF VORSTER: Ich habe zehn Jahre lang als Regieassistent gearbeitet, und ich kenne diese Leute – mit Ausnahme von Rainer Klausmann – seit Jahren. Das kommt einem natürlich entgegen, wenn man den Schritt zur Regie machen möchte. Die Leute können sich sagen, wir kennen den, der hat auch die körperliche Kraft, um einen Film durchzuziehen, da können wir beruhigt einsteigen.

FILMBULLETIN: Beim ersten Ansehen des Filmes scheint bei einem grossen Teil des Publikums eine ähnliche Reaktion zu erfolgen. Der Freude über den ruhigen, bedächtigen und immer wieder überraschenden ersten Teil folgt beim verzwickten, schnelleren und zeitweise exotischen Krimiteil ein gewisses Erstaunen über die Häufung von banalen Dialogen. Nehmen wir einen Wortwechsel zwischen Tom und Christin: «Komm mit mir nach Amerika. » – «Wir kennen uns doch kaurn.» – «Vertrau rnir,» – «Ich mach dich glücklich. » – «Gib mir Zeit.» Mir haben sich dabei die Haare gesträubt.

CHRISTOF VORSTER: Tausendmal gehört, nicht wahr ... natürlich sind das Klischees. In den Zusammenhang gehört für mich das Stichwort «Recycling». Ich mache einen ersten Film im Jahr 1992. Es gibt Tausende von Filmen, alle Geschichten sind schon erzählt worden. Das heisst, wenn ich die Augen offenhalte, dass es sehr schwierig sein dürfte, einen eigenen, absolut authentischen Film zu schaffen. Ich habe bei dieser Arbeit einen Versuch unternommen in eine Richtung, welche bei der Musik schon extrem viel weiter gediehen ist, nämlich nur noch Impulse zu geben. Sätze wie die erwähnten sind selbstverständlich «second-hand», ihr Einsatz reines Recycling. Beim Zuschauer sollen sie daher ruhig ein gewisses Befremden auslösen. Wenn man sich ernsthaft danach fragt, was einem denn täglich am Fernsehen oder im Kino mitgeteilt wird, kommt man bald einmal zum Schluss: Gar nichts. Das alles hat keinen Inhalt. Man hat alles schon so oft gehört, dass es nichts mehr aussagt. Mein Film heisst Schatten der Liebe. Ich wollte nicht von der grossen Liebe erzählen, sondern von ihren Schatten, den Gedanken, Illusionen, Projektionen. Ich glaube gern, dass dem Publikum bei solchen Klischee-Sätzen die Haare zu Berge stehen können. Aber dieses Gefühl liegt recht nahe bei dem, was ich auslösen möchte. Diese Aufforderung, den ersten Eindruck zu überprüfen, erfolgt ja auch, indem ich eine Geschichte, wie man sie in Las Vegas, oder Dublin, oder sonstwo in der Welt ansiedeln würde, in Zürich spielen lasse. In einer vertrauten Umgebung gebe ich den Zuschauern neue Möglichkeiten, Vergleiche anzustellen.

Schatten der liebe 1

FILMBULLETIN: Einen Vergleich provozieren Sie ganz bestimmt: Die Erwartungshaltung, die Sie beim Publikum mit der ersten Stunde des Films aufbauen, mit der dichten Atmosphäre, der Zurückhaltung und weitgehend ohne Klischees, diese Erwartungshaltung wird spätestens mit dem Wiederauftauchen des vermeintlich toten Bruders gekippt.

CHRISTOF VORSTER: Ich sehe den Film als Dreiakter. Der erste Teil erzählt vom Tod. Der Tod des Bruders ist ein ernsthaftes Thema, und ich wollte damit ernsthaft umgehen. Der mittlere Teil leitet sicher dieses «Kippen» ein. Tom wird der Spannung zuliebe ins Industriequartier verschlagen, er findet sich plötzlich mit einer Pistole wieder: Das sind klare Impulse, bekannte Bilder. Die sexuellen Aspekte kommen ins Spiel; Tom glaubt sich zu verlieben, andererseits wird er mit der für ihn fremdartigen Sexualität seines Bruders konfrontiert. Der dritte Akt schliesslich hat eine rein filmische Realität. Ich will keinen Alltag mehr zeigen, die Handlung beginnt «abzuheben». Auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich das Publikum spaltet. Gerade Leute, die viel ins Kino gehen, Leute, welche die Ruhe ertragen, bevorzugen den ersten Teil. Normale, das heisst gelegentliche Kinogänger hingegen bevorzugen den zweiten Teil, der ihnen zur Orientierung eine «Geschichte» vorgibt und handlungsmässig ein beschleunigtes Tempo.

FILMBULLETIN: Das scheint mir ein gewagtes Spiel, ein umgekehrter Aufbau wäre doch bedeutend weniger riskant gewesen?

CHRISTOF VORSTER: Ich denke, jeder Film stellt ein Risiko dar. Für mich ist es auch riskant, genau diese Geschichte zu erzählen. Ich habe mich zum Beispiel sehr zentral mit Tom und seinem Hintergrund beschäftigt. Die Figur der Christin dagegen stelle ich eher so dar, wie Tom sie sieht. Das ist eine Kunstfigur. Wenn man nun ausgerechnet diese Figur isoliert betrachtet, kann man ordentlich in des Teufels Küche geraten.

FILMBULLETIN: Allerdings. Als Frauenfigur ist Christin zu Beginn des Films wohltuend selbständig, sie wirkt recht frisch in der Schweizer Kinolandschaft. Später jedoch, vor allem gegen Schluss des Films, wird dieses Bild gelöscht. Plötzlich steht da die alte «femme fatale», wie sie auch im amerikanischen Kino zurzeit wieder Hochkonjunktur hat. Ich empfand das als Verrat an der Figur. Da mag Ironie im Spiel sein, aber mich hat das geschmerzt.

CHRISTOF VORSTER: Ich glaube nicht, dass ich eine meiner Figuren verraten habe. Alle Figuren, bei denen Gefahr bestand, dass ich sie verraten könnte, habe ich schon im Drehbuch gestrichen. Es ist mir nicht möglich, ohne Zuneigung zu erzählen. Und auch am Schluss des Films wird Christin meiner Meinung nach nicht verraten. Im Gegenteil, viele Leute finden wohl erst dort den Zugang zu ihr, weil sie nun zu diesem Mix aus bereits bekannten Filmfiguren wird, weil doch noch eine Möglichkeit angeboten wird, sie einzuordnen. Das verändert natürlich alles, was vorher war.

Schatten der liebe 2

FILMBULLETIN: Wie kommen Sie dazu, nach rund der Hälfte des Films Ihr Publikum mit etwas völlig Neuem zu konfrontieren?

CHRISTOF VORSTER: Das «Neue» setzt ja, wie Sie auch schon bemerkt haben, mit der Begegnung der beiden Brüder ein. Bis zu diesem Punkt hat jedermann die Behauptung akzeptiert, dass der eine Bruder tot sei. Und das erweist sich nun als Lüge, als Irrweg. Ich hätte das dramaturgisch auch anders angehen können, indem ich zuerst den offensichtlich lebenden Bruder gezeigt hätte und dann erst Tom, der sich im Glauben bewegt, sein Bruder sei tot. Da habe ich mich dagegen entschieden. Damit wird natürlich die Begegnung zum grossen Bruch, weil ja alles umkippt, nicht nur Toms Vorstellungen, sondern auch die des Publikums. Der Tote lebt, die Geliebte ist weg, alles ist anders. Wie gesagt: Beim Reden über Geschichten reden wir über Moral – und meine Moral ist nun wohl nicht die allerproperste ... (zuckt mit den Spitzen seines Schnurrbartes)

FILMBULLETIN: Beim Aufdröseln der Geschichte bleibt die Logik ja auch keineswegs auf der Strecke. Aber im allgemeinen passiert bei Genrefilmen diese Überraschung, dieser Umschlag ganz zum Schluss oder aber in kleineren Happen, so, dass man sich als Zuschauer nach drei oder vier Einstellungen auf die veränderten Um stände umgestellt hat. Bei Ihrem Film fällt es ungleich schwerer, sich neu an die Figuren zu gewöhnen, nachdem der erste Eindruck sich einmal als Trug erwiesen hat. Die veränderte Distanz ist nicht mehr zu überbrücken.

CHRISTOF VORSTER: Das zu hören freut mich, das habe ich mir ja gewünscht, dass es möglich sei in dem Film, Erwartungen aufzubauen, und die dann nicht oder anders zu erfüllen. Stichwort Recycling: Nach ihren Worten ist es mir doch gelungen, auf die Klischees einen Schatten zu werfen. Ich mag es in meinem Leben, wenn das passiert. Das langweiligste für mich wäre der Gedanke: Heute abend um Zehn esse ich ein Wienerschnitzel – und dann finde ich mich wirklich um Zehn vor einem Wienerschnitzel ... Diese Langeweile möchte ich niemandem zumuten. Wenn ich eine Geschichte erzähle, stelle ich den Anspruch an mich, dass da auch etwas zu erzählen sei, und dazu muss ich Risiken eingehen. Wenn Sie von gewöhnen reden, dann muss ich auch noch sagen, dass Sie ja bisher keine Gelegenheit hatten, sich an mich zu gewöhnen. Das ist ja mein erster langer Spielfilm. Das braucht wohl auch Geduld. Man muss abwarten und sehen, wie sich meine Arbeit weiterentwickelt. Vielleicht können wir ja später einmal wirklich über «Vorster-Filme» reden. Im Moment reden wir über die erste Präsentation einer ersten Arbeit ...

FILMBULLETIN: Ihr Film ist stark genug, um auch dort in Erinnerung zu bleiben, wo er dies durch eine gewisse Irritation bewerkstelligt. Und bei mir kommt die Neugier auf einen weiteren Vorster-Film dazu.

CHRISTOF VORSTER: Ich bin ja auch gespannt auf die weiteren Reaktionen. Und ich hoffe, ich dürfe einen nächsten und einen übern.chsten Film machen. Ich habe ja selber auch kritische Gedanken zu diesem Film, und ich sehe die Arbeit als Prozess. So bin ich etwa gespannt, ob es mir in Zukunft gelingen wird, solche harten Brüche zu vermeiden. Man hätte die Geschichte ja auch sanfter kippen lassen können. Aber wo, wenn nicht bei der Arbeit, hätte ich dies auch lernen können? Filmemachen ist Acapulco: Ich stehe auf der Klippe und habe nur die Wahl zu springen oder wieder hinunterzusteigen und mich grauenhaft zu blamieren. Ich habe mich für den Sprung entschieden.

Das Gespräch mit Christof Vorster führte Michael Sennhauser.

Schatten der liebe 4

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/1992 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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