Der Mensch ist schlechtes Kriegsmaterial. Seine Haut ist zu dünn, seine Knochen sind zu brüchig und seine Hände zu schwach. Wenn der Feind mit Flammenwerfern, Giftgasbomben, Panzern und Maschinengewehren auffährt, dann ist die Lage des menschlichen Soldaten vollkommen aussichtslos. Er geht mit einem Gewehr und einem Spaten bewehrt auf seinen Feind los, macht ihn kalt und weiss, dass schon bald seine eigene Uniform nach Hause geschickt wird. Mehr hat er nicht auszurichten.
Der Krieg ist eine absurde Angelegenheit. Ist er einmal angezettelt, wird er unausweichlich und bleibt doch unausstehlich. Genau darum bietet der Krieg so guten Stoff für das Kino. Aus der Situation des Einzelnen, der für die gute Sache sterben soll, haben sich schon Hunderte von Kriegsfilmen gespeist. Und es werden beständig mehr.
Besonders viele Geschichten scheint dabei der Erste Weltkrieg herzugeben. Allein in den letzten Jahren ist eine ganze Reihe von Produktionen über die Kämpfe zwischen 1914 und 1918 erschienen. Testament Of Youth (2014), 1917 (2017) und They Shall Not Grow Old (2018) sind nur die bekanntesten davon.
Gemeinsam ist diesen Filmen eine widersprüchliche Veranlagung. Sie erzählen von den Heldentaten der Soldaten (im Fall von Testament Of Youth der Sanitäterinnen) und wollen doch immer auch ein Kommentar zur schrecklichen Unmenschlichkeit der Geschehnisse sein. Wahrscheinlich sind sie darum so brutal anzusehen: Sie scheinen zeigen zu wollen, wie schrecklich der Krieg ist. Und leben eben doch von den Geschichten, die der Krieg und nur der Krieg hervorbringt. Eine Ambivalenz, die schwer auszuhalten ist.
So zeigt etwa Peter Jacksons Dokumentarfilm They Shall Not Grow Old kolorierte Originalaufnahmen aus den Schützengräben und unterlegt sie mit den Stimmen von Männern, die dabei waren. Mehr als einmal klaffen Erzähltes und Gezeigtes während der 99 Minuten auf groteske Weise auseinander. Zu sehen sind tote junge Soldaten, von Senfgas geblendet, von Schrapnell oder Splittern in Stücke gerissen. Zu hören sind aber Lebende. Die sind vom Krieg traumatisiert und reden doch in nüchternem bis wehmütigem Ton von ihrer Zeit bei der British Expeditionary Force. Es ist zum Verrücktwerden.
Und natürlich sind die einstigen britischen Soldaten am Ende von Jacksons Film stolz auf Britannien und durchaus zufrieden damit, dass man die Deutschen geschlagen hat – und den europäischen Frieden mit Waffengewalt wiederhergestellt hat. Diese miefige Note von Nationalismus ist auch in zeitgenössischen Kriegsfilmen noch allgegenwärtig. Besonders aufdringlich ist der Patriotismus in Christopher Nolans Zweitweltkriegsdrama Dunkirk (2017).
Ein Buch über menschliches Verzweifeln
In mehrerlei Hinsicht hätte All Quiet on the Western Front anders als diese Filme werden können. Die literarische Vorlage wird gemeinhin als Antikriegsroman verstanden, obwohl der Autor Erich Maria Remarque sich gegen diese Zuschreibung wehrte. Es geht in dem Buch um den deutschen Soldaten Paul Bäumer und seine Erfahrungen in den Schützengräben der Westfront. Verstörend an der Geschichte ist, dass der Protagonist Paul Bäumer den Krieg zu keinem Zeitpunkt zu verstehen oder sogar zu legitimieren versucht. Er stellt keine politischen Überlegungen an, sondern menschliche. Der Krieg ist nun einmal da. Und jetzt?
Paul Bäumer ist noch nicht einmal mit dem Gymnasium fertig. Und nun soll er in die Schlacht ziehen und andere umbringen – wenn es sein muss mit blossen Händen. Warum?, fragt er sich. Die Franzosen haben ihm doch gar nichts getan. Er hat, im Gegenteil, noch gar nie einen Franzosen gesehen, bevor er geschickt wurde, möglichst viele von denen totzuschiessen.
Aus dieser Vorlage hätte Drehbuchautor-Regisseur Edward Berger einen Film ohne das ambivalente Nebeneinander von kriegsverherrlichender Heldengeschichte und scheinheiliger Kriegskritik machen können. Er hätte einen Film drehen können über den Krieg als menschliche Katastrophe. Einen Film über menschliches Verzweifeln – genau wie es ein Buch über menschliches Verzweifeln war. Ein Film als ein politisches Statement, das in Zeiten allgegenwärtiger Kriegstreiberei gerade richtig gekommen wäre.
Freies Erfinden mit Edward Berger
Aber das scheinen Berger und die Produzenten von Netflix nicht im Sinn gehabt zu haben. Sie haben darum an der Vorlage seines Films munter herumgewerkelt, haben hier und dort etwas geändert. Vieles – auch Essenzielles – wurde weggelassen, ebenso vieles wurde hinzugedichtet. Herausgekommen ist nun ein Film, über dessen Belanglosigkeit nicht einmal seine Laufzeit von beeindruckenden zweieinhalb Stunden hinwegtäuschen kann.
All Quiet on the Western Front ist nicht unbedingt ein schlechter Film. Aber er ist auch nicht der besondere Film, den er hätte sein können. Es ist ein weiterer, typischer Kriegsfilm, auf den vermutlich niemand gewartet hat.
Und klar: Ein Roman ist ein Roman und kein Drehbuch. Dass es da Anpassungen braucht, ist offensichtlich und braucht nichts Schlechtes zu sein. Viele Literaturverfilmungen halten sich nur lose an die Vorlage und sind Meisterwerke. Hier trifft das allerdings nicht zu. All Quiet on the Western Front bietet allerlei zusätzliches Personal auf, stellt unnötig viele Bezüge zu historischen Ereignissen her und ruiniert so die karge Nüchternheit, die ja gerade der Witz an dem Roman war.
Und nicht nur das: Es gibt Stellen, die im Buch nicht vorkommen und nicht einmal historisch plausibel sind.
Der mutmasslich letzte der etwa 9 Millionen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind, hiess Henry Gunther und war Amerikaner. Er fiel eine Minute vor Inkrafttreten des Waffenstillstands am 11. November 1918 um 11 Uhr. Warum Edward Berger und die Netflix-Offiziere diese Tatsache verdrehen, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg kurz nach Unterzeichnen der deutschen Kapitulation einen Angriff befehlen lassen und Paul Bäumer zum letzten Toten des Kriegs machen müssen, ist absolut unverständlich. Das war weder im Buch noch in der Realität so.
Daniel Brühl als verschüchterter Schwabe
Auf diese Weise verschenkt Edward Berger das politische und das stilistische Potenzial seiner Buchvorlage. Seine Arbeit reiht sich ein in die Tradition von Kriegsfilmen, die den Krieg mit historischen Gegebenheiten erklären wollen, die leidenden Soldaten mit der degenerierten Generalität gegenschneiden, auf den Nebenschauplätzen mit allerlei Dramatik operieren und am Ende nichts als krude Fantasie sind.
Ein bisschen Krieg, ein bisschen Liebeskummer, ein paar grausame Morde – das war schon immer das Rezept hinter Kriegsfilmen. Edward Berger scheint dazu nichts Neues eingefallen zu sein.
Das ist bedauerlich, gerade weil die Produktion sonst sehr aufwendig und eigentlich überzeugend gemacht ist. Da, wo er blutig sein soll, ist der Film blutig. Ganz so schlimm, wie der Trailer es befürchten liess, ist es indessen nicht. Die gewaltigen Bilder stammen von James Friend und sorgen dafür, dass die Spannung auch in ruhigeren Passagen nie ganz zum Erliegen kommt. Nur während einiger Einstellungen am Anfang sehen die Soldaten mit ihren weiten Hosen und groben Wollpullovern wie Berliner Hipster im Zeltlager aus. Danach ist die Bildsprache wieder kohärent.
Die Schauspieler machen ihre Arbeit einwandfrei. Vor allem die Soldaten Paul Bäumer und Stanislaus Katczinsky kommen hervorragend herüber. Felix Kammerer schafft das Kunststück, die Verzweiflung des Soldaten Paul Bäumer glaubwürdig zu verkörpern, ohne nur mit Pathos zu arbeiten. Das ist sehenswert und dürfte ihm einigen Ruhm eintragen.
Daniel Brühl spielt seinen Matthias Erzberger derweil mit toller Steifheit. Wie verschüchtert der Sozialdemokrat von den ganzen Generälen ist, ist anrührend. Und: Brühls schwäbischer Dialekt ist ein Vergnügen.
Trotz alledem bleibt All Quiet On The Western Front deutlich hinter den Erwartungen zurück. Und das hat nicht nur mit den Erwartungen zu tun, sondern vor allem mit dem Film.