Achtung: Dieser Artikel enthält Spoiler für die Serie Adolescence.
Die britische Netflix-Miniserie Adolescence geht gerade durch die Decke und regt Diskussionen an, die bis hinauf ins House of Commons in Westminster reichen. Hier soll es nicht, wie in den meisten Beiträgen in der Tages- und Wochenpresse, primär um erziehungsethische oder sozialpolitische Fragen gehen. Sondern um die Erzählperspektive, deren Gestaltung und dramaturgische Wirkung wesentlich von der Frage abhängt, wie und wann wir von den vergangenen Ereignissen, den darin verwickelten Figuren und ihren Beweggründen erfahren.

Courtesy of Netflix/Cr. Courtesy of Netflix © 2024
Episode 1: Die Frage nach der Motivation
Eine erste Feststellung, die bereits im Titel dieses Artikels anklingt: Adolescence ist kein «Whodunit», also keine Krimi-Serie, bei der bis kurz vor Schluss die Frage im Zentrum steht, wer der oder die Täter:in ist. Der 13-jährige Jamie (gespielt von Owen Cooper) wird gleich zu Beginn von Inspector Bascombe (Ashley Walters) und Sergeant Frank (Faye Marsay) festgenommen und unter Mordverdacht gestellt. Im anschliessenden Verhör streitet der Jugendliche die Tat zwar ab und verweigert auf Anraten seines Pflichtverteidigers Aussagen zu seinen Aktivitäten während der Tatzeit.
Spätestens als die Ermittler:innen Aufnahmen einer Überwachungskamera vorführen, die eine tätliche Konfrontation zwischen Jamie und der gleichaltrigen Katie zeigen, die in der Nacht davor erstochen wurde, scheint der Schuldige etabliert, zumal eine Replik von Jamie ausbleibt.
Der Höhepunkt der ersten Episode, das Vorführen des Überwachungsvideos, rückt somit das Weshalb? ins Zentrum, das den Rest der Miniserie dominieren soll. Unser Wissensstand und unser Erlebnis der aufwühlenden Ereignisse rücken uns nah an Jamies Vater (Stephen Graham), der – mit uns zusammen – erst gegen Ende der Episode von der verstörenden Tat seines Sohnes erfährt.

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Neben dem brisanten Inhalt und den herausragenden Schauspielleistungen macht Adolescence dadurch Furore, dass jede der über 50-minütigen Episoden in einer ununterbrochenen Plansequenz gedreht wurde – ein technischer wie inszenatorischer Kraftakt, der der Serie einen eindrücklichen Sog verleiht. Einer klar konturierten Instanz lässt sich die Kamera dennoch nicht zuordnen. Allein in den ersten drei Minuten der ersten Episode gleitet sie von anthropomorpher Beobachterposition in raumgreifende Beweglichkeit und wieder zurück.
Ein besonderer Effekt entsteht so auch beim Einweisen ins Untersuchungsgefängnis, wo die Kamera ganz organisch zwischen Jamie und seinen Familienangehörigen auf der einen und dem Anstaltspersonal auf der anderen Seite hin- und herwechselt. Erstere sind geschockt und ringen um Fassung, Letztere gehen routiniert ihrer täglichen Arbeit nach. Oder, wie es Ross McIndoe treffend formuliert: «For the Miller clan, this is the worst day of their lives. For everyone else, it’s Tuesday.» Trotz ihrer Beweglichkeit und wechselnden Perspektive privilegiert die Kamera die Figur des Vaters, der an diesem frühen Vormittag den Alptraum aller Eltern durchmacht.
Bei aller Virtuosität: Als Selbstzweck erscheinen die Kamerabewegungen in Adolescence nie. Zum einen lässt sich sagen, dass der ebenso virtuose wie unaufdringliche Flow der Steadycam als gestalterische Klammer wirkt, die die unterschiedlichen Episoden zusammenhält. Zum anderen setzt uns die Absenz raffender Montage (unangenehmen) Situationen aus, die üblicherweise verkürzt dargestellt sind. Etwa sind wir gezwungen, der langen Fahrt zum Untersuchungsgefängnis oder dem Strip-Search, den Jamie trotz Protesten seines Vaters über sich ergehen lassen muss, minutenlang zu folgen.

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Episode 2: Der Graben zwischen den Generationen
Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass ein 13-Jähriger eine gleichaltrige Mitschülerin ersticht, steht in der zweiten Episode im Zentrum. Die Ereignisse offenbaren einen Bruch im Verständnis, der entlang der Generationen verläuft: Erwachsene versus Jugendliche.
Im Verhör der ersten Episode gingen die Ermittler:innen Bascombe und Frank nämlich noch davon aus, dass Jamie und das Opfer befreundet oder gar mehr als nur Freunde gewesen waren, weil Katie Instagram-Posts von Jamie mit Emojis kommentiert hatte. In ihren Befragungen wollen sie nun von Jamie, einem Schulkameraden und Katies bester Freundin wissen, wie eng die Freundschaft war und ob sexuelle Kontakte stattgefunden haben, die die Tat erklären könnten.
Die Schlüsselszene der zweiten Episode folgt auf diese Verhöre, wenn Bascombes Sohn, der dieselbe Schule besucht, seinen Vater um eine persönliche Unterredung bittet. «Dad, it’s not going well ’cause you’re not getting it», eröffnet ihm dieser. Und klärt seinen Vater endlich über die Bedeutung der Emojis und weiterer Symbole in den Instagram-Posts auf, die nahelegen, dass Katie Jamie schikanierte und als «Incel» (involuntary celibate) diffamierte, wofür sie viel Zuspruch in Form von Herz-Emojis erhielt (was die Ermittler:innen ebenfalls falsch gedeutet hatten).

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Hier findet eine Verschiebung statt: Als Zuschauer:innen (egal welchen Alters) waren wir bisher auf Seiten der nichtsahnenden Erwachsenen, denn die Instagram-Posts wurden uns nie direkt, sondern nur via Interpretation der Polizeikommissar:innen vermittelt. Die Entschlüsselung der Emojis und weiterer Codes im Bereich der (sexuellen) Zu- und Abneigung sowie der Incel-Kultur mag nun besonders die Generationen X und Y mit eigenen Kindern ins Grübeln bringen: Kann es sein, dass wir ebenfalls keine Ahnung haben, was unsere Teenager auf Social-Media-Plattformen treiben, respektive, dass wir nicht einmal verstünden, was abgeht, wenn wir die Posts läsen? Eine kleine Aufmunterung hält die Serie für diese Altersgruppe immerhin bereit. Denn dass die Bedeutung von «blaue versus rote Pille» – gefangen in einer Wahrnehmungsillusion versus Erkenntnis der Wahrheit – dem Film The Matrix (1999) entnommen ist, weiss wiederum Bascombe, aber sein 15-jähriger Sohn nicht.
Die Ambivalenz der visuellen Perspektive auf das Geschehen wird in der zweiten Episode zum Finale hin nochmals deutlich. Erst wechselte die Kamera auf dem Schulareal hektisch von Schauplatz zu Schauplatz und folgte den Figuren minutenlang auf Augenhöhe durch die Gänge. Dann schwebt sie plötzlich (an einer Drohne befestigt) in die Höhe, löst sich vom nervösen Treiben und landet schliesslich am Tatort, wo der Vater für das Opfer Blumen niederlegt.

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Episode 3: Keine einfachen Erklärungsmuster
Dass Adolescence weder in Bezug auf das schulische noch das familiäre Umfeld (auch Jamies Familie ist intakt) einfache Erklärungsmuster bedient, immer wieder Perspektiven wechselt, ist die grosse Stärke der Miniserie. Jede der vier Episoden zeigt einen Ausschnitt – vom Zeitpunkt kurz nach der Tat bis wenige Wochen vor dem Gerichtsprozess –, der genau der Erzählzeit entspricht. Die Abstände nehmen dabei zu: Die erste Episode spielt frühmorgens kurz nach dem Verbrechen, die zweite am dritten Tag nach der Tat, die dritte sieben Monate und die vierte 13 Monate danach.
Im Gegensatz zu den ersten zwei ist die dritte Episode als eigentliches Kammerspiel inszeniert und bringt als Interviewpartnerin von Jamie eine neue Figur ins Spiel: die Psychologin Briony Ariston (Erin Doherty), die eine Stellungnahme fürs Gericht verfassen soll. Ihrer Konversation mit dem Wärter entnehmen wir, dass es nicht ihr erster Besuch ist und sie bereits Akten zum Fall studiert hat. Der entscheidende Satz ist allerdings ihre Antwort auf die Frage, was sie im Report schreiben werde: «If I knew that, I wouldn’t be here.» So wird klar, dass Ariston Jamies Motivation bisher genauso wenig durchschaut wie wir. Gemeinsam mit der Psychologin gilt es somit zu ergründen, wie es dazu kommen konnte, dass ein intelligenter Jugendlicher aus scheinbar normalen Familienverhältnissen eine gleichaltrige Klassenkameradin ersticht.
Da sich die dritte Episode fast nur in einem Raum abspielt, ist der Radius der Kamera eingeschränkt. Trotzdem bleibt sie in Bewegung, kreist behutsam um die Figuren und nimmt dabei abwechselnd beide, nur die eine oder die eine über die Schulter der anderen in den Blick. Das Gespräch, das sie einfängt, beginnt mit entspanntem Smalltalk, der eine Vertrautheit der beiden offenbart. Auf eine Bemerkung von Jamie hin («You sound like my granny») lenkt Ariston das Thema auf seine Familie, den Vater und schliesslich die Frage, was Männlichkeit für ihn bedeute. Hier wechselt Jamie abrupt auf eine Metaebene und wirft der Psychologin vor, ihn durch die Gesprächsführung austricksen zu wollen. Diese erwidert, sie habe diese Frage nicht unvermittelt ansprechen wollen. Der Wortwechsel reflektiert für uns das Vorgehen der Psychologin, bestätigt, dass Jamie überdurchschnittlich intelligent ist, und lässt erahnen, dass er ein Problem mit dem Thema Männlichkeit hat.
Weiter rückt Jamies Beziehung zu seinem Vater in den Fokus. Es braucht für ihn viel Überwindung zuzugeben, dass sein Vater am Rand des Fussballfelds jeweils den Blick auf seine schwachen Darbietungen aus Scham abgewandt hat. Durch direkte Fragen nach Jamies Gefühlen in solchen Momenten, gelingt es Ariston Schritt für Schritt, zu den wunden Punkten vorzudringen, die Einsichten in seine mangelnde Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls vermitteln.

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Kurz danach rastet Jamie zum ersten Mal aus – ein Kontrollverlust, der die gefühlte Diskrepanz zwischen seinem bisherigen Auftreten und der ihm vorgeworfenen Tat merklich reduziert. Der zweite Gefühlsausbruch – diesmal nach Fragen rund um das Thema Mädchen und Sexualität – wirkt noch bedrohlicher, sodass wir dem Jugendlichen eine Tätlichkeit nun zutrauen.
Obwohl wir mit grossem Interesse nicht nur das Verhalten von Jamie, sondern auch die Gesprächsführung der Psychologin und ihre Reaktionen verfolgen, sind wir in den emotionalen Schlüsselszenen relativ nah an ihrer Erlebnisperspektive, denn sie scheint die bisher verborgenen, dunklen Seiten des Angeklagten ebenfalls neu zu entdecken und ad hoc verarbeiten zu müssen. Je mehr wir uns den entscheidenden Dialogpartien nähern, die Aufschluss über Jamies Motivation geben, desto stärker konzentriert sich auch die Kamera auf den Jugendlichen, allerdings nicht ohne zwischendurch Aristons Reaktionen einzufangen. Die Inszenierung unterstützt somit unsere Anbindung an die Beobachterposition der Psychologin, die bereits durch das geteilte Unwissen über Jamies Motivation vorbereitet war.
Am Schluss der Unterredung gelingt es Ariston, Jamie einige Aussagen zu seinem Verhältnis zum Opfer und zu den Ereignissen in der Tatnacht zu entlocken. Dabei macht der Jugendliche zwar nach wie vor kein Schuldeingeständnis, er gibt aber zu, von Sarah eine demütigende Abfuhr erhalten und sich der Fantasie hingegeben zu haben, er hätte das Recht gehabt, sich an ihr zu vergehen. Wer nach dem ersten Schock des Überwachungsvideos angesichts der harmlosen Erscheinung und des beinahe kindlichen Verhaltens von Jamie noch gehofft hatte, dass sich die Anklage als Missverständnis herausstellen würde, sieht sich spätestens hier eines Besseren belehrt. Der Psychologin reichen Jamies Aussagen denn auch für ihren Bericht, sodass sie die Untersuchung abrupt beendet.

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Episode 4: Das schmerzhafte Eingeständnis
Die vierte und letzte Episode von Adolescence wendet sich – wie die erste – der Familie zu, wobei Jamie, der nach wie vor in Untersuchungshaft einsitzt, abwesend ist. Anfangs steht für Vater, Mutter (Christine Tremarco) und Schwester (Amélie Pease) die schwierige Situation als Angehörige eines Mordverdächtigen im Zentrum, die anonymen Diffamierungen ausgesetzt sind, wovon der mit dem Wort «Nonse» vollgesprayte Familien-Van zeugt. (Korrekt wäre «Nonce». Es handelt sich um ein britisches Slang-Schimpfwort, das für Personen verwendet wird, die Kinder sexuell missbrauchen.) Wie sehr alle drei darunter leiden, zeigt sich, wenn ihr Bestreben scheitert, zumindest den Geburtstag des Vaters fröhlich zu feiern.
Schlüsselmoment der Episode ist jedoch der Anruf von Jamie, als die Familie im Van unterwegs ist. Nach einigem Zögern teilt der Sohn seinem Vater mit, er wolle nun doch auf schuldig plädieren. Auch hier spielt eine spezifische Wissens-Konstellation eine Rolle, denn Jamie hätte sich kaum zu diesem Geständnis durchgerungen, hätte er geahnt, dass nicht nur sein Vater, mit dem ihn ein Vertrauensverhältnis verbindet, sondern auch Mutter und Schwester mithören.
Das anschliessende Schweigen wirkt umso bedrückender, als keiner der drei auf Jamies Bekenntnis eingeht. Im Gegenteil: Als sich Mutter und Tochter gefangen haben, wechseln sie abrupt das Thema. Erst zurück in der Wohnung entsteht zwischen Mutter und Vater ein Dialog unter Tränen, in dem sie sich fragen, wie es dazu kommen konnte, dass ihr Sohn zum Mörder wurde und ob sie nicht mehr hätten tun können, um dies zu verhindern. Zentrale Dialogpartie dieser eindrücklichen Sequenz, die den Höhepunkt der Miniserie und gleichzeitig eine Art Appell an alle Eltern darstellt, ist die Aussage: «We thought he was safe ... in his room.» Die Serie endet mit einer versöhnlichen Note. Einerseits ringen sich Jamies Eltern zur Einsicht durch, dass sie den Sohn enger hätten begleiten müssen, andererseits schöpfen sie Kraft aus der Tatsache, dass auch ihre Tochter, die die schwierige Situation eindrücklich meistert, Frucht ihrer Liebe ist.

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In der letzten Episode ist die raumzeitliche Anbindung an den Vater wieder eng, aber anders als in der ersten Episode kommt ein distanzierendes Element hinzu, denn das Gespräch mit der Psychologin hat unsere Zweifel an Jamies Schuld ausgeräumt, während der Vater zu diesem schmerzhaften Erkenntnisprozess erst nach dem Geständnis des Sohns gezwungen wird. Wir betrachten ihn dabei mit grosser Anteilnahme, aber aus beobachtender Perspektive mit mehr reflexiver Distanz als in der ersten Episode. Dies tut der emotionalen Wucht des Finales von Adolescence jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil, da die Perspektive auf das Geschehen nicht nur das Mitfühlen, sondern auch die Reflexion anregt, hallt das Ende weit über den Abspann hinaus nach und verhindert für einmal, dass wir gleich den nächsten Vorschlag annehmen, den Netflix für uns bereithält.
Aufhänger der Miniserie ist ein Femizid unter Jugendlichen, wie es in Grossbritannien und anderen Ländern leider häufiger vorkommt, als man denken würde. Durch die gewählte Erzählperspektive rückt als Adressat jedoch die Generation der Eltern ins Zentrum und, damit verbunden, Fragen der Erziehung und der Kommunikation mit den eigenen Kindern im Teenager-Alter. Dass selbst abgebrühte Profis wie Bascombe und Ariston im Umgang mit Jamie emotional an ihre Grenzen stossen, zeigt, wie weit die Radikalisierung gehen kann, bis sie für Erwachsene sichtbar wird. Das grosse Verdienst von Adolescence ist es, eine längst überfällige Diskussion über die Ursachen solcher Fehlentwicklungen angestossen zu haben.