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3 Coeurs

Die Spiegel sind tief in diesem Film. Es wird gründlicher auf sie geschaut, sie geben mehr preis, als es im Kino üblicherweise geschieht. Sie werden befragt nicht nur als Reflexion der Realität, sondern als deren Bestätigung. Auch als Ratgeber könnten sie dienen, wäre die Selbsterkenntnis nicht ein so schwer erstrittenes, kostbares Gut in 3 cœurs.

Text: Gerhard Midding / 29. Apr. 2015

Die Spiegel sind tief in diesem Film. Es wird gründlicher auf sie geschaut, sie geben mehr preis, als es im Kino üblicherweise geschieht. Sie werden befragt nicht nur als Reflexion der Realität, sondern als deren Bestätigung. Auch als Ratgeber könnten sie dienen, wäre die Selbsterkenntnis nicht ein so schwer erstrittenes, kostbares Gut in 3 cœurs.

Gleich in der zweiten Szene setzt Benoît Jacquot den Spiegel hinter dem Tresen eines Cafés raffiniert in Szene. Der Finanzbeamte Marc, der den letzten Zug verpasst hat und nicht weiss, was er nun in der nächtlichen Provinzstadt mit sich anfangen soll, blickt auf das Wasserglas, das er füllt. Sodann schwenkt die Kamera fort von dem Requisit und offenbart, dass er jetzt sein Spiegelbild betrachtet. Fortan wird die Kamera ihn immer wieder in dieser Haltung ertappen. Nachts, wenn er seiner Unruhe nicht Herr werden kann, rückt er im Wohnzimmer einen Stuhl zurecht, damit er dem Spiegel exakt gegenüber steht. Er muss sich dem Urteil des eigenen Blicks stellen; auch in seiner letzten Szene, dem agonalen Höhepunkt, in dem er sein Leben noch einmal einer Prüfung unterzieht, nachdem es endgültig aus der Bahn geworfen worden ist.

Unerwartete Frische

Ein verpasster Zug, ein Abend in einer verschlafenen Provinzstadt, zwei Fremde, die sich begegnen und aus ihrer Einsamkeit erlöst werden: Davon hat uns das Kino, zumal das französische, schon oft genug erzählt. Aber diesmal ist es ganz anders. Dieser Film formiert das Bekannte neu. Aus ihm spricht ein Elan, der sich souverän darüber hinwegsetzt, dass die Bilder sich längst schon in Klischees erschöpft haben könnten. Sie sind schliesslich nicht von ungefähr entstanden. 3 cœurs erstattet ihnen ihre ursprüngliche, funkelnde, brennende Gültigkeit zurück. Es ist beinahe so, als würden die Figuren und die Zuschauer vertraute Erfahrungen zum ersten Mal durchleben.

Eines Abends begegnet Marc einer Unbekannten, deren Identität und Namen er nicht erfährt. Ihre Wiederbegegnung am nächsten Freitag in den Pariser Tuilerien vereitelt ein Herzanfall, der ihn auf dem Weg ereilt. Nun sucht er verzweifelt in der namenlosen Kleinstadt nach der Unbekannten. Er findet dort ein zweites Mal eine Liebe. Zufällig lernt er Sophie kennen, heiratet sie und entdeckt viel zu spät, dass sie die Schwester der Gesuchten ist. Wie viel die Mutter der unzertrennlichen Geschwister vom Aufruhr der Gefühle ahnt, offenbart deren Darstellerin Catherine Deneuve nur der Kamera.

Jacquot belebt einen Grundimpuls des Kinos neu: das Melodram. Er nimmt es auseinander und setzt es wieder zusammen, bis es in schöner Kenntlichkeit neu ersteht. 3 cœurs ist ein Film, der weiss, woher er kommt und was er der Tradition hinzufügen kann. Eine verschwörerische Geste der Schwestern, den Mund mit den Fingern zu einem Lächeln zu verziehen, stammt geradewegs aus Griffith’ Broken Blossoms. In der Regel steht eine Frau im Zentrum dieses Genres. In diesem Wechselbalg aus Konvention und Eigensinn ist es ein von Angstzuständen gepeinigter Mann. Die Moral wird den Figuren des Melodrams üblicherweise von der Gesellschaft auferlegt, hier regt sie sich allein in ihnen selbst: als ein romantisches Schuldgefühl, das entsteht aus der Gewissheit, dass es unmöglich ist, die anderen nicht zu verletzen. Den Widerstreit zwischen Sehnsucht und Schicksal trägt Jacquots Film mit wehmütiger Dringlichkeit aus.

Das Erzählterrain der bürgerlichen Liebesverhältnisse ist ihm wohlvertraut. Oft schon hat er seine Figuren, meist sind es Frauen, durch die Verrücktheiten der Liebe geschickt. Vor ein paar Jahren erst hat er in Villa Amalia erzählt, wie eine Frau ihre Koffer packt und sich brüsk aus ihrem bisherigen Leben verabschiedet. Hier geschieht es gleich zweimal (die früheren Partner der zwei Schwestern blieben stets Randfiguren im Familienzusammenhalt). Allerdings steckte in seinen bisherigen Filmen insgeheim ein Moment der Widerlegung der Genregewissheiten. Dieses analytische Besteck gibt er auch in 3 cœurs nicht aus der Hand. Aber das Ungestüm, das zuvor seinen Figuren vorbehalten war, macht er ein Stück weit zu seiner eigenen erzählerischen Haltung. Er lässt sich von der Sehnsucht seines Helden ins Schlepptau nehmen, tiefer in die Intimsphäre der Frauen vorzudringen. Zweifellos hat ihm die zwischenzeitliche Inszenierung mehrerer Opern zu einer grösseren Direktheit des Gefühlsausdrucks geführt. Er scheut sich nicht, die Dinge zuzuspitzen, vertraut auf die Unbedingtheit der Gefühle. «Wir tauschen unsere Nummern aus», sagt Marc beim ersten Abschied von Sylvie, um sicherzugehen, dass ihr Rendezvous in den Tuilerien stattfindet. Sie widersetzt sich: «Ich werde da sein.»

Nie zuvor hat Jacquot es zugelassen, dass sich die Musik so nachdrücklich in die Geschehnisse einmischt. Bruno Coulais’ Partitur schillert zwischen einem Thema für Streicher, das der Handlung Suspense verleiht, als sei dies ein Thriller, und einer Klaviermelodie, die ein romantisches Versprechen ausgibt. Mit kluger Agilität spannt Julien Hirschs Kamera den Raum zwischen den Liebenden auf, legt mit Reissschwenks Stolpersteine aus und wagt Heranfahrten an Abgründe. Bis zur verblüffenden Schlusspointe ist Julien Boivents Drehbuch um das Motiv des Doubles konstruiert. Beharrlich greift es Gesten (das konstruierte Lächeln), Requisiten (ein unberechenbares Feuerzeug, die Alarmanlage im Antiquitätengeschäft der Schwestern), Situationen (das rituelle Mittagessen im Haus der Mutter) und Dialoge (in keinem Film ertönt so oft «Je ne sais pas») auf und lässt sie zwischen den Beteiligten zirkulieren. Die Montage pflichtet diesem Prinzip der Dopplung bei, wenn sie etwa das Zuschlagen von Türen aufeinanderfolgen lässt. Die Perspektiven wechseln, die Einfühlung der Zuschauer belebt sich immer wieder neu. Selbst dem viel gescholtenen Verbündeten des Melodrams, dem Zufall, verleiht derlei erzählerische Präzision ungeahnte Noblesse.

Ein romantischer Besetzungcoup

In seinem Darstellerensemble findet Jacquot grossartige Bündnispartner. Charlotte Gainsbourg verleiht ihrer vertrauten, widerspenstigen Melancholie ungekannte Nuancen; die Rolle ihrer Schwester hätte undankbar geraten können, würde Chiara Mastroianni ihrer Zaghaftigkeit nicht so viel Verve beifügen. Benoît Poelvoorde wiederum ist ein verblüffender Besetzungscoup in einer Rolle, die zunächst Vincent Lindon spielen sollte. Als Komiker ist er eigentlich ein Mann ohne Geheimnis: Seine Missgeschicke entlarven ihn. Es trifft sich, dass er seine Figur eminent physisch zeichnen kann. Marc wird regelmässig von Beklemmungen befallen, einer Kaskade psychosomatischer Signale. Seine Ärztin rät ihm, ein ruhiges Leben zu führen. Aber er lässt sich auf Abenteuer ein, die für ihn zu mächtig sind. Er kann nur schwer verbergen, was in ihm vorgeht. Die moralische Improvisation gelingt ihm schlecht.

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Poelvoorde findet sicher zur Zerbrechlichkeit seiner Figur. Deren Freundlichkeit wirkt hastig, ist stets einer Anspannung abgetrotzt. Ihr Verhalten wird zusehends selbstzerstörerisch. Zumeist wird Poelvoorde als Komödiant von robuster, zuweilen unerfreulicher Durchschnittlichkeit besetzt. Auch diese Figur offenbart sein Faible für Zudringlichkeit. Sein Äusseres dementiert jeden Anflug von Romantik. In einem handelsüblichen Melodram würde keine Frau Notiz von ihm nehmen. Aber selbst dem Beruf des Steuerprüfers gewinnt er poetische Seiten ab. Die Liebe sucht nicht nach der Idealbesetzung. Sie erwischt, wen sie erwischen will.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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