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Centaur

«Wir sind ein Volk von Nomaden. Einen Kirgisen ohne Pferd kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen.» Den verträumten Pferdedieb, der gegen die moderne Zeit kämpft, spielt Aktan Arym Kubat selbst.

Text: Stefan Volk / 21. Juni 2017

Wenn der kirgisische Regisseur Aktan Arym Kubat ([art:svet-ake-light-thief:The Light Thief]) über sein Heimatland spricht, gerät er mitunter regelrecht ins Schwärmen. Im Vergleich zu den Nachbarländern Kasachstan, Tadschikistan oder Usbekistan, sagt er dann, sei Kirgisistan eine Insel der Demokratie. Den Freiheitsdrang seines Volks führt er auf dessen nomadische Vergangenheit zurück. Lebende Sinnbilder dieser Tradition sind für ihn Pferde; die «Flügel der Menschen», wie er sie nennt. Auch der Protagonist seines neusten Spielfilms benutzt diese schöne, etwas pathetische Metapher und vermischt darin kirgisische und griechische Mythologien zu einer Schöpfungsgeschichte, die Mensch und Pferd untrennbar miteinander vereint. Genau wie die Titelfigur, die der 60-jährige Regisseur selbst verkörpert, ist auch Kubat mit Pferden aufgewachsen. Trotz solcher Parallelen stimmt das positive Bild, das Kubat in Interviews von seiner Heimat zeichnet, jedoch nicht mit demjenigen überein, das er in seinem Film entwirft.

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In Centaur erscheint der gleichnamige Held wie ein in die Jahre gekommener kirgisischer Don Quichotte. Ein melancholischer Träumer, der seinen einsamen Kampf gegen die moderne Zeit, den Identitäts- und Freiheitsverlust des kirgisischen Volks ausficht. Um ihn herum machen sich dekadenter Kapitalismus und fanatischer Islamismus breit. Wildpferde werden brutal eingefangen, Rennpferde für teures Geld verkauft oder als Statussymbole gehalten. Centaur aber, der mit einer jungen taubstummen Russin verheiratet ist und selbst kaum ein Wort spricht, begehrt nur heimlich gegen solche Entwicklungen auf. Seit das örtliche Dorfkino in eine Moschee umgewandelt wurde, sitzt der einstige Filmvorführer zu Hause bei seiner Frau Maripa und dem zärtlich geliebten fünfjährigen Sohn. Oder er flirtet auf dem Markt mit der verwitweten Verkäuferin Sharapat. Nachts entwendet er die teuersten Rennpferde aus den Ställen, um auf ihnen mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen über die Steppe zu galoppieren. Hinterher stellt er die wertvollen Tiere stets wieder so ab, dass sie von ihren Besitzern gefunden werden können. Trotzdem wird er schliesslich als «Pferdedieb» überführt.

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Sein Bruder, dem eines der Pferde gehört, legt vor dem Dorfrat ein gutes Wort für Centaur ein, weshalb ihm das Gefängnis erspart bleibt. Stattdessen soll er eine Pilgerreise nach Mekka antreten. Religion und Islam aber sind dem wehmütigen Kirgisen ebenso fremd wie die moderne, urbanisierte Zivilisation; vielleicht mit Ausnahme des Kinos. Überall, wohin er geht, trägt er die Filmrollen von Tolomush Okeyevs The Red Apple (1975) mit sich herum. In diesem unter der Flagge der Sowjetunion entstandenen kirgisischen Spielfilm verwechselt ein Künstler seine eigenen Phantasiegestalten mit der Realität. Bei Centaur ist das eher umgekehrt. Er somnambuliert durch die Wirklichkeit, als wäre sie ein Traum. Jedenfalls so lange, bis er bei einem seiner nächtlichen Ausritte gefasst wird. Jetzt droht ein schmerzhaftes, quälendes Erwachen, dem sich Centaur mit letzter Kraft zu entziehen versucht.

Kubat inszeniert diesen Konflikt in langen, sommerträgen Tableaus. Vor der überwältigenden Landschaft Kirgisistans, den endlosen Ebenen und schroffen Gebirgen, schrumpfen die Protagonisten zu kleinen Punkten. Mensch und Natur sind aus dieser Perspektive untrennbar miteinander verknüpft. Die prachtvollen Panoramaaufnahmen und anhaltenden Totalen lösen das filmische Erzählen und den Zuschauer­blick vom Gängelband einer durchgetakteten Schnitt-­Gegenschnitt-Montage. Auch den Schauspielern eröffnet sich so ein grösserer Gestaltungsraum.

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Vor allem aber atmet der Film jene Freiheit und Weite, aus der sich auch Centaurs Sehnsucht speist. Und auch das Publikum kann seinen Blick scheinbar ungezwungen umherschweifen lassen. Freilich ist diese rezeptive Freiheit letztlich vor allem eine schöne Illusion. Auf den zweiten Blick erweisen sich die Filmbilder als äusserst sorgfältig arrangiert. Erst durch den Verzicht auf schnelle Schnitte und wilde Schwenks wird etwa jene symbolkräftige Einstellung möglich, die aus der Vogelperspektive zeigt, wie Centaur, seine Frau und sein kleiner Sohn scheinbar einträchtig nebeneinander schlafen, bis Centaur heimlich aus dem Bett und aus dem Bild schleicht. Nur sein Schatten, der im Mondlicht auf Frau und Kind fällt, ist noch zu sehen, während er sich anzieht und sich schliesslich davonstiehlt. Eine wunderbare, kleine cineastische Kostbarkeit, die das Wesen dieser unspektakulären, surrealen Film­elegie beispielhaft charakterisiert.s

Es scheint, als stimmte Kubat mit Centaur ein Requiem an, einen Abgesang auf ein Kirgisistan, wie es heute nur noch in Träumen und Mythen existiert. Hört man den Filmemacher aber in Interviews von seinem Heimatland schwärmen, lässt sich die vermeintlich nostalgische Rückbesinnung durchaus auch als Weckruf verstehen. Kein schriller Alarmton freilich. Lediglich ein leises, lyrisches, ein zärtliches Summen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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