Emad ist Literaturprofessor und unterrichtet eine Gruppe junger Männer, sie sprechen über Fabeln und deren Unwägbarkeiten; die Hauptfigur könne sich etwa ohne weiteres in eine Kuh verwandeln. Die Schüler schauen sich verwundert an und einer fragt ungläubig: «Aber wie verwandelt man sich vom Menschen in ein Tier?» «Nach und nach», gibt Emad ruhig zu verstehen, nicht wissend, dass der Satz bald eine ganz persönliche Bedeutung für ihn entfaltet. Emads Antwort ist gleichsam programmatisch für Ashgar Farhadis Schaffen und seinen neuen Film The Salesman. Wie schon in seinen früheren Filmen steht zu Beginn ein Ereignis, das die Privatsphäre der Hauptfiguren bedroht und eine Reaktionskette in Gang setzt, in deren Verlauf sich die Figuren in ein undurchdringliches Netz aus Schuld und Scham verstricken. Farhadi selbst verglich dieses sich langsam entfaltende Narrativ einmal mit ringförmigen Wellen, die entstehen, wenn ein Stein auf die Wasseroberfläche trifft. In The Salesman schlagen Emad und seiner Ehefrau Rana ebensolche Wellen entgegen, konfrontieren sie mit Fragen nach Verantwortung, Wahrheit und Moral.
Anfangs scheint noch alles in Ordnung: Das Ehepaar ist gerade in eine geräumigere Wohnung gezogen, die ihnen ein Freund vermittelt hat. Ein Zimmer jedoch ist voll mit dem Hab und Gut der Vormieterin, die, so erfahren sie bald von den Anwohnern, ohnehin keinen guten Ruf hatte. Eines Abends dann öffnet Rana – im Glauben, es sei ihr Ehemann Emad – die Haustür. Mit einer blutigen Kopfverletzung bleibt sie nach der Attacke eines unbekannten Eindringlings im Bad zurück. Die Suche nach dem Täter wird für Emad zum Rachefeldzug, das Ringen um eine angemessene, gemeinsame Reaktion auf das traumatische Erlebnis treibt die beiden zusehends auseinander.
Mit Arthur Millers Theaterstück «Death of a Salesman», das das Ehepaar mit Freunden probt, fügt Farhadi dem Film eine weitere Ebene hinzu. Auf der Bühne, in der Eingangsszene als Versuchsraum etabliert, verdoppelt sich der Kampf mit den Rollenanforderungen und um gelungene Kommunikation. Während Emad und Rana anfangs ganz in ihren Bühnenrollen aufgehen, die noch eindeutig für das Publikum bestimmt sind, sickern zunehmend die Folgen der Attacke in die Performances hinein und lassen Risse in der erprobten Illusion entstehen. Emad kann sich nicht von der Kränkung lösen, die der Übergriff auslöst. Seine Wut, die ihn langsam «zum Tier» werden lässt, ist nur Teil der Verstrickung – mehr noch schämt er sich für die Unachtsamkeit seiner Frau, einem Fremden die Tür geöffnet zu haben. Rana wiederum ist gefangen in ihrer Opferrolle; die löst Scham aus, den Übergriff zugelassen zu haben. Und zwingt sie in einer männlich dominierten Gesellschaft, in der Gewalt gegen Frauen als Privatsache und vornehmlich als Schande für den Ehemann angesehen wird, zum Schweigen. So ringen beide mit ihren inneren Konflikten und halten mit aller Kraft das Geheimnis – und die Illusion – aufrecht. Die Bühnenpassagen funktionieren hierbei als Metakommentar und fügen dem sonst eher sozialrealistischen Anstrich des Films eine interessante Ebene hinzu, indem sie die innere Gefangenheit von Emad und Rana abstrahieren.
Mit Blick auf Farhadis Gesamtwerk lässt sich The Salesman als Variation von [art:separation-nader-and-simin:Nader and Simin] verstehen, bei dem er bereits ein Ehepaar vor ganz ähnliche, letztlich unlösbare Probleme stellte. Ein sorgsam konstruierter Plot, der die Ambivalenzen im Beziehungsgeflecht aufrechterhält, dabei Fragen nach Moral und Schuld durchzudeklinieren vermag, ohne einfache Antworten zu geben – ist zweifellos Farhadis grosse Stärke. Eindrucksvoll auch, wie er es gemeinsam mit Kameramann Hossein Jafarian versteht, den unauflösbaren Konflikten eine visuelle Entsprechung zu verleihen. So wirken die Räume, in denen sich das Paar bewegt, zersplittert und verschachtelt. Ihre Blicke begegnen sich nicht mehr direkt, sondern verzerrt durch Fenster und Türrahmen. Und die Kamera fängt Emad und Rana im Schuss-Gegenschuss ein und damit in zunehmender Opposition, kaum mehr jedoch im gleichen Bild. Obwohl die sich langsam auffächernde Suche nach dem Täter in eine überladene Auflösung mündet, entfaltet der Film eine enorme Sogkraft. Getragen vom starken Spiel der Hauptdarsteller Shahab Hosseini und Taraneh Alidoosti, die hier zum wiederholten Mal mit Farhadi zusammenarbeiten und einmal mehr ihr aussergewöhnliches Können unter Beweis stellen. Diese Intensität erreicht der Film auch, weil das im Zentrum stehende Verbrechen – sexualisierte Gewalt gegen Frauen – emotional packend ist.
Zwar muss sich Farhadi den Vorwurf gefallen lassen, sein Grundschema zu wiederholen – das zudem in Nader and Simin insgesamt besser funktioniert. Dennoch bleibt The Salesman ein meisterhaft konstruiertes und eindringlich gespieltes Beziehungsdrama, das seine Wirkung auch als ein spannendes und präzises Gedankenspiel über den Alltag in repressiven Gesellschaftssystemen entfaltet. Farhadi ist und bleibt tagesaktuell und politisch: Noch vor dem Angriff auf Rana steht ein erzwungener Umzug, der durch eine panische Evakuierung ihrer Wohnung ausgelöst wird. Emad und Ranas ursprüngliches Zuhause droht einzustürzen, Fenster und Wände bekommen Risse, kurz ist ein Bulldozer zu sehen, der sich am Fundament des Hauses zu schaffen macht. Die Zerrüttung ihres Heims steht noch vor allen Verwerfungen, die folgen werden. Der Stein, der später auf die Wasseroberfläche trifft, fällt somit aus der Hand einer Gesellschaft, die es seinen Mitgliedern unmöglich macht, sich richtig zu verhalten. «Ich würde gerne einen Bulldozer holen und die ganze Stadt niederreissen», sagt Emad selbst an einer Stelle. Dieser Ruf nach gesellschaftlicher Veränderung, in der die Ahnung eines Auswegs steckt, es bleibt der eindringliche Appell, der auch The Salesman vorangestellt ist.