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Mr. Gaga

Tanz als Heilung. Eine packende filmische Hommage an Ohad Naharin, einen der renommiertesten, produktivsten und innovativsten zeitgenössischen Choreografen.

Text: Doris Senn / 14. Sep. 2016

Seine Inszenierungen sind von fesselnder Körperlichkeit. Ebenso sanft und geschmeidig wie kraftvoll und aggressiv. Meist geben die Tänzer und Tänzerinnen mit ihren Stimmen, mit ihrem Schreiten und Stampfen der Performance den Puls. Oder dann sind die Auftritte wieder so ruhig und fragil und sinnlich wie sichtbar gewordene Phantasiegebilde. In der Tanzszene gilt Ohad Naharin seit Jahrzehnten als bahnbrechender Innovator. Wichtig ist ihm, dass die Persönlichkeit der, des Tanzenden zum Ausdruck, die Bewegung von innen herauskommt. Der Körper soll sich selbst entdecken, nichts übergestülpt oder «performt» werden. Das wurde ihm bereits bei seinen Anfängen klar, als erst Martha Graham ihn in ihre Schule aufnahm und dann Maurice Béjart ihn für seine Truppe engagierte. Beide verliess Ohad Naharin wieder nach kurzer Zeit, weil er keine angelernten Figuren umsetzen mochte und sogar befürchtete, darob den Verstand zu verlieren.

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Ohad Naharin, 1952 in Israel geboren, wuchs die ersten Jahre in einem Kibbuz auf und liebte als Kind dessen naturverbundenen, kommunitären Geist. Später, während des Jom-Kippur-Kriegs, diente er aufgrund einer Verletzung als «Unterhalter für traumatisierte Soldaten». «Ein absurdes Theater», wie er bitter bemerkt. Erst anschliessend begann er, professionell zu tanzen – und hatte Erfolg. Nach Jahren in Paris und New York kehrte er 1990 wieder in seine Heimat zurück: als Leiter der Batsheva Dance Company in Tel Aviv, in der er 1974 seine Tanzausbildung begann.

Mit Mr. Gaga porträtiert Regisseur Tomer Heymann Werdegang und Arbeit von Ohad Naharin. Geschickt verknüpft er persönliches und professionelles Leben, Vergangenheit und Gegenwart, kreiert aus Inszenierungen und Reflexionen des Tänzers eine packende filmische Hommage. Zum «Mr. Gaga» wurde ­Naharin durch eine Bewegungssprache, die er nach einer schweren Rückenverletzung initiierte. «Gaga» schreibt dem Tanzen eine heilende Wirkung zu und möchte Tänzer und Tänzerinnen, aber auch alle, die seine Open Classes besuchen, ermutigen, durch die Bewegung den eigenen Platz im Universum zu suchen und über die eigenen körperlichen Grenzen hinauszuwachsen. Für die Bezeichnung berief er sich auf sein mutmasslich erstes gesprochenes Wort als Kind – schliesslich sollten die Menschen durch seinen Tanz zu ihrem eigentlichen, ursprünglichen Wesen zurückfinden.

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Tomer Heymann schuf seit 2001 rund ein Dutzend teils preisgekrönter Werke. Meist sind es sehr persönliche Dokumentarfilme über Menschen und ihr Beziehungsnetz. Dabei nimmt sich der Regisseur auch selbst ins Visier – etwa mit I Shot My Love, in dem er seine Liebe zu Andreas, den er in Berlin kennengelernt hatte, einfing und das Minenfeld einer Beziehung zwischen ihm als Sohn einer aus Nazideutschland nach Palästina geflohenen Familie mit einem Deutschen thematisierte. Aber auch mit The Queen Has No Crown – ein Porträt seiner imposanten, Israel sehr verbundenen Mutter, der «Queen», die damit zurande kommen muss, dass drei ihrer fünf Kinder in die USA ausgewandert sind. Heymanns jüngster Film, Who’s Gonna Love Me Now (2016), wiederum handelt von Saar Maoz, der – schwul und HIV-positiv – von Israel nach London emigrierte, weil seine Familie bei seinem Coming-out vor 25 Jahren sich von ihm abwandte.

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Mit Mr. Gaga stellt Regisseur Heymann einmal mehr unter Beweis, wie er Nähe und Vertrauen zu seinen Protagonisten aufzubauen vermag. Dabei ist ihm Ohad Naharin seit jungem Erwachsenenalter ein Begriff: Mit zwanzig, als Soldat, erhielt er Tickets für eine Batsheva-Tanzaufführung. Wie Heymann in einem Interview sagte, war er auf Anhieb vom Gesehenen eingenommen und verfolgte Naharins Schaffen kontinuierlich – seit acht Jahren auch filmisch. Mit seinem Porträt, für das er auch aus Naharins Archiven schöpfen durfte, gelingt ihm ein überaus spannender Einblick in Werk und Persönlichkeit des hierzulande viel zu wenig bekannten Choreografen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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