Die Geschichte ist rasch erzählt: Ein Mann Mitte dreissig kehrt nach über zehn Jahren in sein Elternhaus zurück, um seine Familie über seinen bevorstehenden Tod zu informieren. Was folgt, ist eine Lektion darüber, wie schwierig das scheinbar Einfachste der Welt sein kann: Reden.
Die Gründe, warum Louis seinerzeit die Familie verliess, bleiben weitgehend im Dunkeln. Sicher ist nur, dass jetzt, da er für ein Wochenende zurückkehrt, alle aus dem Häuschen sind: Überdreht, laut, verunsichert, abweisend – jeder reagiert auf seine Weise auf den verlorenen Sohn, Bruder und Schwager. Und noch bevor sich die helle Aufregung legen kann, beginnt er, dieser Reigen des Redens. Sei es während des Beisammenseins in der Küche, am Esstisch, auf der Terrasse, wo die Stimmung nie anders als aufgekratzt ist, alles durcheinanderspricht und sich gegenseitig unterbricht. Sei es in Form von Gesprächen, die Louis unter vier Augen führt, zunächst mit Schwägerin Catherine (die er überhaupt erst kennenlernt, weil er damals an der Hochzeit nicht dabei war), dann mit der kleinen Schwester Suzanne (die er eigentlich nicht kennt, weil sie bei seinem Weggang noch ein Kind war), mit der Mutter und schliesslich mit dem älteren Bruder Antoine. Einen Vater gibt es nicht – eine Leerstelle, deren Auswirkungen auf die emotionale Gemengelage grösser sein dürften, als den Figuren bewusst ist.
Doch während Louis nach dem passenden Augenblick sucht, um seine schwere Nachricht zu überbringen, entwickeln die Gespräche ihre eigenen Dynamiken. Denn die Gefühlslage aller Beteiligten ist vielschichtig, die Wiedersehensfreude kontaminiert durch Groll, Unverständnis, Neid und Eifersüchteleien. Alte Wunden erweisen sich als längst nicht geheilt, und so holt die Rückkehr des Sohns die verschütteten Störungen dieses Familiengefüges ans Licht.
Xavier Dolan, der in beinahe fassbinderschem Tempo einen Film nach dem anderen vorlegt, fungierte bisher stets auch als Drehbuchautor seiner Filme. Nach [art:tom-la-ferme:Tom à la ferme] (2013) hat er sich mit Juste la fin du monde nun zum zweiten Mal auf die Verfilmung eines Theaterstücks eingelassen. Wie riskant ein solches Unterfangen sein kann, ist ablesbar an den zahlreichen Beispielen, die nur bedingt gelingen. Tatsächlich liegt in der Adaption von Dramen eine beträchtliche Herausforderung. Denn während das Bühnenstück Handlung und Figurenzeichnung fast ausschliesslich aus dem Dialog entwickeln muss, ist im Film das gesprochene Wort nur ein Gestaltungsmittel neben anderen (Kamera, Bildkomposition, Licht, Farbe, Musik, Geräusche). Der Dialogreichtum, der auf der Bühne eine schiere Notwendigkeit ist, kann sich auf der Leinwand rasch in eine Dialoglastigkeit verwandeln. Auch die Beschränkung auf wenige Schauplätze, die im Theater vollkommen schlüssig ist, wirkt im Film oft künstlich begrenzt und unbeabsichtigt statisch.
Dieser Fallstricke war sich Dolan durchaus bewusst. Dass er sich dennoch auf das gleichnamige Drama von Jean-Luc Lagarce einliess, erweist sich als Glücksfall, der beinahe ausgeblieben wäre, da ihn das Stück zunächst nicht interessierte. Erst Jahre später habe er dessen Dimensionen erfassen können: «Auf einmal verstand ich die Worte, die Emotionen, die Stille, das Zögern, die Nervosität» dieser Figuren. Besonders angetan hatte es ihm die Sprache: «Voller Ungeschicklichkeiten, Wiederholungen, Zögern, grammatikalischer Fehler … Da, wo jeder andere zeitgenössische Autor ohne weiteres alles Überflüssige und jede unnötige Wiederholung streichen würde, lässt Lagarce sie stehen.» Und Dolan übernimmt sie. Seine Figuren «schwimmen in einem Meer von Worten», reden ohne Unterlass und sind doch auf erbarmungswürdige Weise ausserstande, zu benennen, was sie bewegt. Manche von ihnen schaffen es näher an das Eigentliche heran, verlieren sich aber in abgebrochenen Sätzen. Bei anderen ist dagegen fraglich, ob ihnen das Eigentliche überhaupt bewusst ist. Zwischen den Redeschwallen: Momente der Stille, Augenblicke des Atemholens, Phasen der Erschöpfung. Wie Inseln ruhen sie in diesem Wortmeer und seinen aufgewühlten Strömungen. Dolan hat sie behutsam und klug platziert: Ohne sie verkäme §Juste la fin du monde zum geschwätzigen Film mit dürrem Handlungsgerüst.
Andere Limitationen, die sich aus der Adaption des Theaterstücks ergeben, etwa die Begrenztheit des Schauplatzes, übersetzt Dolan treffsicher ins Medium Film. Zwar stattet er das Familienhaus mit viel Liebe zum Detail aus, überlässt nichts dem Zufall. Doch wo ein Pedro Almodóvar das Dekor mit Begeisterung zelebrieren würde, hält sich Dolan zurück. Das Setting ist ihm wichtig, sehr wichtig, aber noch wichtiger sind ihm die Figuren. Und so wird die Grossaufnahme zur bevorzugten Einstellungsgrösse. Eintönig wird das freilich selbst dann nicht, wenn die Kamera geradezu an den Figuren zu kleben scheint. Denn immer wieder bleiben wesentliche Partien des Bildes verschattet, sind Gesichter nur im Viertelprofil zu sehen, ziehen sich die Figuren ins Dunkel oder in die Unschärfe zurück. Tatsächlich weist der Film einen Hang zum Diffusen auf, der in besonderer Weise einleuchtet, geht es doch um den mühevollen Versuch, durch Reden Klarheit zu erlangen. Wie als Ausgleich zu den damit verbundenen Strapazen wartet Juste la fin du monde immer wieder mit Bildern auf, deren Schönheit so unerwartet wie betörend ist. Ergänzt werden sie, wie so oft bei Dolan, von einem gleichermassen mutigen wie schlüssigen Soundtrack. Wie ein Schlussstein ist er souverän und nahtlos eingefügt in die Architektur dieses Films, dessen herausragendste Leistung wohl in der präzisen Orchestrierung der Gefühle liegt: jener der Figuren auf der Leinwand genauso wie jener der Zuschauer.
Dass es gelingt, liegt nicht zuletzt an der Besetzung, die so reich an Stars ist wie noch bei keinem anderen von Dolans Filmen. Nathalie Baye als Mutter: scharfzüngig, streitbar, übergriffig. Léa Seydoux als jüngere Schwester: verunsichert, unbeholfen, ziellos. Vincent Cassel als älterer Bruder: sarkastisch, verletzend, mit aller Kraft seine Bedürftigkeit abwehrend. Marion Cotillard als Schwägerin: eingeflochten in diese Familie, aber dennoch über einen Blick von aussen verfügend, als Einzige auf der richtigen Spur, kurz davor, die wichtigen Fragen zu stellen. Und im Auge dieses Wirbelsturms: Gaspard Ulliel als Louis, der mit engelsgleicher Sanftheit (und Schönheit) von einem zum anderen wandelt und dabei irritierend ungreifbar bleibt.
Den Figuren, die sie verkörpern, begegnet Dolan weder vorwurfsvoll noch herablassend, weder denunziert er sie, noch stellt er sie in ihrer Unfähigkeit, zu kommunizieren, bloss. Wo andere einen kühlen Blick eingenommen und diese Familie wie in einem Experiment beobachtet hätten, schildert er ihre herzzerreissenden Unzulänglichkeiten mit einer Warmherzigkeit und Empathie, die bemerkenswert reif sind. 2009 hatte Dolan mit seinem Erstling [art:jai-tue-ma-mere:J ai tué ma mère] die Bühne des internationalen Kinos betreten. Sein Auftritt – er war gerade mal zwanzig – war ein Paukenschlag, der ihm umgehend den Ruf des Wunderkindes eintrug. Jetzt, mit 27 Jahren und vier Filme später, hat er sich mit Juste la fin du monde einen Stoff vorgenommen, vor dem viele ältere Kollegen zurückgeschreckt wären. Es sei sein erster Film als erwachsener Mann, sagt er. Dass er reüssiert, ist kein Zufall, sondern zeugt von ebenso viel Talent wie Tiefgang.