Denn nichts ist doch süsser als unsere Heimat und Eltern, wenn man auch in der Fern’ ein Haus voll köstlicher Güter unter fremden Leuten, getrennt von den Seinen, bewohnet.
Homer, Odyssee IX, 34
Es ist eine originelle Interpretation von Homers Odyssee, die Samirs Onkel Sabah Jamal Aldin zu Beginn dieses autobiografischen Dokumentarfilms präsentiert: Odysseus’ Gattin Penelope ist in seiner Version der Irak, der nicht auf die Rückkehr des Helden von seinen gefährlichen Abenteuern wartet, sondern sich mit den USA ins Bett legt. Unter diesen Umständen scheint eine Heimkehr unmöglich, was sich auch in den Geschichten der über den ganzen Globus verstreut lebenden Mitglieder der Familie Jamal Aldin spiegelt. Auch sie mussten viele schwierige politische Umbruchsituationen im Irak erleben, immer wieder eine neue Heimat suchen und – im Fall von Sabah – sogar Folter überleben. Ihr Schicksal ist ein Leben im Exil, das sie mit Millionen von gebildeten arabischen Mittelklassefamilien teilen, die aus dem krisengeschüttelten Nahen Osten fliehen mussten.
Der in der Schweiz lebende Samir (was so viel wie «abendlicher Gesprächspartner» bedeutet) breitet als ruhiger Tausendundeine-Nacht-Geschichtenerzähler eine sowohl universelle als auch sehr persönliche Familiensaga vor uns aus, in episch langen 163 Minuten. Vor sieben Jahren begann er seine Spurensuche und sammelte Geschichten und Bilder, die er nun zu einer reichen Erzählung verwoben hat. Seine Protagonisten gehören zwei Generationen an, wobei der Überblick über die grosse Verwandtschaft dank eines ausführlich erklärten (und in 3D wunderbar in die Raumtiefe hinein hierarchisierten und einprägsamen) Stammbaums gewährleistet bleibt: Neben Onkel Sabah ist Samirs Tante Samira Jamal Aldin Teil der Elterngeneration, während Cousine Tanya Uldin, Cousin Jamal Al Tahir und Samirs Halbschwester Souhair Riadh Ahmed sowie Samir selbst trotz grosser Altersunterschiede alle der darauffolgenden Generation angehören. Sie alle leben in ganz unterschiedlichen Teilen der Welt: London, Auckland, Lausanne, Moskau und Buffalo.
Dank ihres Charismas und ihrer Eloquenz sorgen die Erzählerinnen und Erzähler für Fokussierung und emotionale Wärme. Man hört gerne zu, wenn etwa Sabah eine Familienlegende über seinen Vater erzählt, der zugunsten eines Fährmanns auf das Privileg der religiösen Turbanträger auf eine kostenlose Überfahrt verzichtet, indem er seinen schwarzen Turban in den Fluss wirft und ihn nie wieder aufsetzt. Eine grosse humanistische Geste, die die Bedeutung der Säkularisierung der Familie bildlich vor Augen führt, auch wenn Samirs Grossvater wahrscheinlich den Turban einfach zu Hause weglegte.
Vor dem Hintergrund der Säkularisierung entwickelt sich denn auch die ausführliche Familiengeschichte aus privaten Episoden und stärker politisch geprägten Ereignissen. Samir unterfüttert sie mit historischen Fakten. Die Lektion in Iraks Geschichte muss sich notwendigerweise auf Elementares beschränken, umfasst sie doch etwa hundert Jahre. Für jene, die hier viel Neues erfahren, sind die Informationen möglicherweise zu kondensiert. Dennoch gibt man sich gern dem Bilder- und Erzählfluss hin. Insgesamt stellt sich ein Gefühl einer gewissen Ohnmacht eines Volkes ein, das von Okkupation, Kriege und Diktatur geprägt ist.
Den Bildern des heutigen Irak stellt Samir bereits am Anfang seine Kindheitswahrnehmung der Heimat gegenüber, die sich von den europäischen Städten wenig unterscheidet, fahren doch dort die gleichen roten Doppeldeckerbusse wie in London. Von diesem modernen und weltoffenen Irak der fünfziger Jahre geht die Reise über den Aufstand gegen die Briten und die Unabhängigkeitserklärung über die arabische Revolution, die Hinwendung zum Kommunismus bis zu den Irakkriegen und Saddam Husseins Diktatur. Prägend für das Schicksal dieser Odysseus-Figuren ist die frühe Säkularisierung der Familie, die eigentlich vom Clan der Sayyids abstammt und damit vom Propheten selbst.
Samir hat ein ganzes Meer an Archivmaterial zusammengetragen, das als Fluss von dokumentarischen, privaten und fiktionalen Bildern die Textur dieser komplexen Erzählung bildet. Schon in Babylon 2, aber vor allem in Forget Bagdad entwickelte er einen Umgang mit Bildern, Schrift und einem schwarzen Hintergrund, aus dem sich die Bilder organisch in Schichten übereinanderlegen und einen eigenen Raum unabhängig von der Kadrierung beanspruchen. In Iraqi Odyssey führt Samir dieses Verfahren in einem dreidimensionalen Gebilde weiter. Natürlich könnte man sich fragen, welchen Mehrwert 3D hier bringt, denn um die räumliche Schichtung nicht noch mit Untertiteln zu überfrachten, hat sich der Regisseur für Synchronfassungen (auf Arabisch, Englisch und Deutsch) entschieden. Der Charme und die Authentizität der Erzählerinnen und Erzähler leiden durch die Synchronisierung mehr oder weniger. So vermag die deutsche Synchronstimme von Samira deren Charakter zu vermitteln, während Jamals deutsche Stimme an ein didaktisch überformtes Voice-over vieler Fernsehdokumentationen erinnert und emotionale Distanz zum Protagonisten schafft.
Die 3D-Version überzeugt jedoch im Umgang mit der räumlichen Schichtung. Die Personen heben sich als plastische Figuren vom schwarzen Hintergrund, auf dem das zweidimensionale Bildmaterial in eine hierarchische Ordnung des Vorne und Hinten tritt. Selbstverständlich wirkt auch die Weltkugel, auf der sich die Odyssee abzeichnet, in 3D haptisch-sinnlich.
Am Ende der Abenteuer und der vielen Reisen steht zwar nicht die Heimkehr, so doch eine Zusammenkunft der ganzen Familie – an einem neutralen Ort in den Schweizer Bergen.