Am Anfang des Films rollt Robert wie ein übermütiges Kind den Hügel runter. Eine kurze Befreiung, die das Oben und Unten durcheinanderbringt und eine schwerwiegende Schuld vergessen lässt. Robert lässt sich treiben. Driften. Dieser Begriff ist ihm nur allzu bekannt. Auf der Strasse bedeutet es, das Fahrzeug bei hohen Kilometerzahlen pro Stunde zu übersteuern, aber trotzdem die Kontrolle zu behalten. Robert, Anfang zwanzig, war ein passionierter Raser auf der Suche nach dem ultimativen Geschwindigkeitsrausch. Sich spüren war das Ziel. Doch die Kontrolle konnte er in dem Moment nicht mehr behalten, als ihm bei einem der illegalen Strassenrennen ein Kind vors Auto lief.
Nun kommt er aus dem Gefängnis nach Hause und versucht, ins Leben zurückzufinden. Da warten der Vater mit Distanziertheit und die Mutter mit Überfürsorglichkeit auf ihn, aber beide ohne Verständnis. Die Exfreundin glaubt nicht an Roberts Läuterung, die Raserkumpel haben ihn verstossen und gebärden sich betont primitiv, was man ihnen als Zuschauer auch gerne als Wesenszug attestiert. Robert scheint ohnehin nicht mehr zu ihnen zu gehören. In der Welt der jugendlichen Vergnügungslust ist er zum Fremdkörper geworden, dem Max Hubacher die nötige Sperrigkeit und innere Versehrtheit verleiht.
Entschlossen, ein neues Leben anzufangen, überlässt Robert seinen geliebten Golf GTI einem Autohändler und kauft ein «zahmes» Auto. Der neue Arbeitsort, eine Garage, wartet jedoch mit Versuchungen auf, mit schnellen teuren Autos und einem dem Schnelligkeitsrausch verfallenen und aufsässigen Kollegen. Einmal lässt sich Robert mitreissen und bei 180 Kilometern pro Stunde auf der Landstrasse ekstatisch die neu gewonnene Haftung verlieren. Obwohl die Inszenierung des Rausches etwas klischiert ausfällt, lässt sie Roberts Gratwanderung spürbar werden.
Karim Patwa beginnt seinen Erstling mit einer fragmentierten Erzählung, erst nach und nach enthüllt er, welche Schuld auf Robert lastet. Die Tragödie selbst liegt schon vier Jahre zurück, angesichts des jugendlichen Alters des Protagonisten eine lange Zeit. Kaum ist er im Alltag wieder angekommen, wird er von der Vergangenheit eingeholt. Da verwandelt sich der gelassene Blick aus dem Busfenster in merkwürdig irritierte Haltung, als er eine nicht mehr ganz junge Frau aussteigen sieht und ihr bis nach Hause folgt. Es scheinen sich ungeahnte Abgründe aufzutun. Bei der nächsten zufälligen Begegnung im Nachtclub kommen sich die beiden näher und landen im Bett. Robert hat sich kurzerhand einen falschen Namen zugelegt. Wir wissen noch nicht warum. Als Stefan will er nun Alice nah sein und gibt vor, bei ihr Englisch lernen zu wollen. Dass er ein Mädchen überfahren hat und dass Alice – das ahnen wir bald – die Mutter ist, erfahren wir erst nach gut einem Drittel des Films. Alice bleibt noch länger ahnungslos, und Sabine Timoteo spielt ihre fragile Stärke, der ein fast unerträglicher Schmerz zugrunde liegt, leicht überdreht und dennoch geerdet. Dank der intensiven Darstellungen gewinnen die Szenen, in denen sich Alice und Robert begegnen, an emotionaler Kraft und lassen die Konventionalität der Erzählung vergessen.
Dass die Schuld des Täters und der Schmerz und das Leid der Hinterbliebenen ein starkes Band knüpfen und delikaten Stoff für Geschichten liefern, haben schon andere gezeigt. Christian Petzold lotete in Wolfsburg die unheimliche Anziehung zwischen einem Autohändler, der einen Jungen zu Tode fährt und mit dessen Mutter eine Beziehung eingeht, betont unemotional aus. Die gleiche Geschichte aus der anderen Perspektive erzählte Andrea Arnold in ihrem Debütfilm Red Road. Erst fast am Ende dieses atmosphärisch dichten Films erfahren wir, warum die zerbrechliche und traurige Jackie einen Mann, den sie auf den Überwachungskameras an ihrem Arbeitsort entdeckt hat, verfolgt und ihn verführt. Sie will sich rächen, denn er hat bei einem Unfall den Tod ihrer Familie verschuldet.
Driften erzählt nicht neu, auch wenn er zu Beginn mit dem Wissensgefälle zwischen Figur und Zuschauern spielt. Patwa schafft es, die beiden untrennbar durch das tragische Ereignis Verbundenen, ohne zu urteilen, aufeinandertreffen zu lassen. Und es erweist sich als cleverer Drehbucheinfall, dass Robert und Alice oft in einer Fremdsprache kommunizieren. So schlüpfen sie in Rollenspiele, in denen die unerträgliche Wahrheit aufblitzt, ihre Dramatik sich aber nicht sofort entfaltet. So kann Robert alias Stefan seine innersten Wünsche formulieren, ohne dass Alice von seiner wahren Identität weiss: «I would do everything to bring your daughters life back.» Dem steht Alice’ Horror entgegen: «Ich darf den Mann nicht sehen, ich glaube, ich würde ihn erstechen.» Aus dieser Spannung der verhüllten Offenbarungen und dem Umstand, dass wir nie genau wissen, ob Alice nicht doch ahnt, zu wem sie sich da hingezogen fühlt, speist sich die zunehmend intimer werdende Stimmung. Das Rollenspiel gipfelt in einer gemeinsamen Fantasie, einer Verführungsszene in einer Londoner Bar, Robert als smarter Banker und Alice als schöne Bardame. Weit weg der wahren und schmerzhaften Begegnung – die aber unausweichlich ist.