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Sils Maria

Der nun schon fast sechzigjährige Olivier Assayas, ein ebenso produktiver wie auch theoretisch beschlagener Regisseur − er war auch langjähriger Redakteur der «Cahiers du cinéma» −, versteht es sowohl mit Emotionen wie mit intellektuellen dramaturgischen Konstruktionen sein Publikum aufmerksam zu halten, auch wenn es mehr oder minder nur um das Verhältnis zweier Frauen zueinander geht.

Text: Erwin Schaar / 10. Dez. 2014

Über Menschen zu erzählen, deren Leben in scheinbar geordneten Bahnen verläuft, in das keine Kriege oder Katastrophen einbrechen, erfordert, um eine allgemeine Aufmerksamkeit zu erzeugen, dass diese eine Individualität besitzen, die unser Interesse einfordern kann. Da blicken die im Mittelpunkt stehenden jungen Leute in die Zukunft, schätzen die Chancen ihres Lebens ein, Ältere leben auch in der Vergangenheit, reflektieren ihre Erfolge und Niederlagen und müssen meist erkennen, dass kommende Zeiten keine Höhepunkte mehr für sie bereithalten.

Der nun schon fast sechzigjährige Olivier Assayas, ein ebenso produktiver wie auch theoretisch beschlagener Regisseur − er war auch langjähriger Redakteur der «Cahiers du cinéma» −, versteht es sowohl mit Emotionen wie mit intellektuellen dramaturgischen Konstruktionen sein Publikum aufmerksam zu halten, auch wenn es mehr oder minder nur um das Verhältnis zweier Frauen zueinander geht. Einer solchen Konfiguration dann auch mit sonstigen Betrachtungen und Nebensächlichkeiten unseres Lebens den besonderen Kick zu geben, ja, das macht das Können eines Erzählers aus, der um die Aufmerksamkeitspotenz seines Publikums Bescheid weiss.

Im unruhig sich bewegenden Waggon eines Schnellzugs versucht eine in ihrer Gestik selbstbewusste junge Frau mit ihren zwei Mobiles die Termine für kommende Ereignisse und die Funklöcher der modernen Digitalnetze in den Griff zu bekommen. Die technische Entwicklung hat schon zu Filmbeginn die hektische Einbeziehung des Zusehers in das Geschehen möglich gemacht, wo doch in Filmen der analogen Vergangenheit vielleicht nur das Betrachten der vorbeifliegenden Landschaft erzählerisch möglich gewesen wäre. Aber auch die reifere, attraktive Frau im Abteil, die in Beziehung zu Val, der mit Ferngesprächen Jonglierenden, steht, ist dabei, mit ihrem Handy die Kommunikation nach aussen aufrechtzuerhalten. Es ist die Schauspielerin Maria Enders, unterwegs mit ihrer Assistentin nach Zürich, wo die Ehrung des Autors Wilhelm Melchior in grossem Rahmen stattfinden und sein Stück «Die Malojaschlange» wieder aufgeführt werden soll. Damals spielte Maria die junge Sigrid, die ihre Chefin Helena in den Tod treibt. Jetzt, in ihren reiferen Jahren, soll sie die Rolle der Helena übernehmen. Die schon durch das ständige Telefonieren hektische Zugfahrt wird plötzlich zu einer besinnlichen Umgebung, als Maria durch Val erfährt, dass Wilhelm gestorben ist. Der Tod eines Mannes, den Maria verehrt und auch geliebt hat, bringt die hektische Atmosphäre zu einem Stillstand, der sich in Zürich schnell wieder verändert, wo die Ehrung stattfinden sollte und die Hektik der Vorbereitungen in eine Ehrung des Toten mündet.

Wie im Gespräch eingebettete Nebenverweise dienen Assayas’ bildliche Details der Orientierung, wenn zum Beispiel ein paar Bilder in einer Totalen die Bergung von Wilhelms Leiche vor seiner Villa in den Bergen um Sils Maria zeigen und das Haus nun nach seinem Tod den beiden Frauen zur Vorbereitung auf die neuerliche Aufführung überlassen wird. Assayas benennt den Aufenthalt von Maria und Val im Haus in den Bergen als Teil 2, obwohl nie ein Teil 1 erwähnt wird, der mit der Würdigung des Autors der Malojaschlange ein Ende gefunden hat.

Die beiden Frauen sind altersmässig ein Spiegelbild der Konstellation im Spiel, nur dass jetzt Maria in der Rolle der Älteren ihre Haltung finden muss. Die existenziellen Auseinandersetzungen der beiden gehen ohne erkennbare Einschnitte in Proben des Textes über und umgekehrt. Die spektakuläre Landschaft des Oberengadins lässt uns ein individuelles Schicksal wie ein Existenz bestimmendes Surrounding erfahren.

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Der Epilog spielt in London, wo Maria ihren Regisseur und ihre neue junge Gegenspielerin trifft, das Hollywood-Starlet Jo-Ann Ellis, das ihr unmissverständlich klarmacht, wer nun die Hauptrolle zu spielen hat.

Maria oder Sigrid oder Juliette Binoche – sie haben ihre Jugend hinter sich gelassen, und Assayas spiegelt diese Entwicklung oder besser, konfrontiert sie mit einer Landschaft, die ihren Charakter sehr schnell verändern kann, wenn die neblige Malojaschlange über den Pass herabkriecht, ein Wetterphänomen.

Mag Nietzsche nur assoziativ bei der Nennung von Sils Maria erinnert werden, so möchte doch bei Olivier Assayas’ Konzeption seiner Filmgeschichte das Gedicht aus Nietzsches «Fröhlicher Wissenschaft» Pate gestanden haben:

Hier sass ich, wartend, wartend – doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts

Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
Da, plötzlich, Freundin! wurde eins zu zwei
Und Zarathustra ging an mir vorbei …

Die ewige Wiederkunft allen Geschehens − in der Entwicklung des menschlichen Lebens, in der Wetterlage der Landschaft, gespiegelt wiederum in der Wandlung der Sigrid zu Helena und mit dem neuen Star Jo-Ann, die Sigrid sein wird. Maria «blickt ins Leere und betrachtet die Frau, die sie mit zwanzig Jahren war: Im Grunde war sie die gleiche. Geändert hat sich die Welt um sie herum, und die Jugend hat sich verflüchtigt. Die Jugend als Jungfräulichkeit, als Entdecken der Welt: Das lässt sich nicht wiederholen.» (Assayas)

Jugend und Beginn des Alters, zumindest die Vorahnung der Entwicklung, das gelingt Assayas in einer vielleicht nebensächlichen Einstellung anzudeuten, wenn Maria und Val nach einer Bergwanderung im Bergsee baden gehen und die Ältere nackt ins Wasser steigt, während Val ihre Unterwäsche selbst zum Schwimmen nicht ablegt. Man möchte das schamvolle Verhalten der Jüngeren im Ungewissen belassen und das Verhalten Marias nicht als schamlos bezeichnen, sondern als selbstverständlich, weil sie ihren Körper als natürlich empfindet.

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Der Epilog, das Aufeinandertreffen Marias mit dem Regisseur des Remakes und der jungen Schauspielerin, die jetzt ihre Rolle übernehmen wird, die den Ruhm der Älteren begründete, bringt wieder allzu Menschliches ins Spiel, wenn der attraktive Freund von Jo-Ann sich ohne Hemmung mit ihr in der Öffentlichkeit zeigt – und seine Frau Selbstmord begeht. Das ist auch einmal Sigrid passiert im Stück von Melchior. Assayas bringt die Wiederholungen im Leben wie Schicksale, die das Leben bereithält, ohne dass wir das als aufdringlich empfinden − eben weil das Leben oft so einfach und doch so bedeutsam abläuft.

Die Schlange, die den Malojapass herunter durch die Berge zieht, eine wie menschliches Leben wiederkehrende Erscheinung, musikalisch pathetisch ins Bild gesetzt, wurde schon von Arnold Fanck 1924 gefilmt: Das Wolkenphänomen von Maloja. Fancks Impressionen werden ausführlich und bildfüllend zitiert, werden selbst in ihren schwarzweissen Bildern zum erkennenden Aha-Erlebnis für den Kreislauf des Lebens, auch wenn neue Entwicklungen das Verhalten der Menschen scheinbar verändern. Und eine solche Entwicklung hat bei Gott einen dramaturgischen Stellenwert im Film, weil das Handy- und Tablet-Telefonieren in einem solchen Ausmass die Handlung vorantreibt, als ob es zur Essenz des Lebens geworden wäre. Da mag das Telefon in Marias Zimmer im fashionablen Londoner Hotel fast ein Joke sein. Und noch etwas wird auffällig in der Inszenierung: Es vergeht fast kein Augenblick, in dem nicht zur Zigarette gegriffen wird. Auch dieses Laster wird die Menschen nicht verlassen, ausserdem ist es ein wunderbarer Kunstgriff, eine Inszenierung von Dialogen visuell spannend zu gestalten.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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