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Deux jours une nuit 01

Deux jours, une nuit

Was ist eine menschliche Existenz wert? Diese gewichtige Frage dient als Ausgangspunkt von Deux jours, une nuit, dem neuen Film des belgischen Regieduos Luc und Jean-Pierre Dardenne; und sie nehmen sie wörtlich.

Text: Marian Petraitis / 05. Nov. 2014

Was ist eine menschliche Existenz wert? Diese gewichtige Frage dient als Ausgangspunkt von Deux jours, une nuit, dem neuen Film des belgischen Regieduos Luc und Jean-Pierre Dardenne; und sie nehmen sie wörtlich. Sandra kehrt nach einer längeren Depression zu ihrer Arbeit zurück, um zu erfahren, dass ihre Stelle gestrichen werden soll. Der Chef stellt Sandras Arbeitskollegen vor die Wahl: Entweder es bekommt jeder eine Prämie von 1000 Euro, oder sie verzichten auf den Bonus und stimmen dafür, dass Sandra ihre Stelle behält. Der bleiben achtundvierzig Stunden, um die Hälfte der sechzehn Mitarbeiter zu überzeugen, für sie und gegen die Bonuszahlung zu stimmen.

Schnell könnte eine solch simpel anmutende Versuchsanordnung verkürzend oder konstruiert wirken, doch bei den Dardenne-Brüdern, die für ihre gradlinigen Sozialdramen bekannt sind, gewinnt der Film gerade durch die Reduktion auf die Begegnungen zwischen Sandra und ihren Kollegen an Klarheit und Wirkungsmacht. Das entschlackte Drehbuch lässt keine Pausen zu, hält die Spannung um den Ausgang der Wahl stets hoch. Und lässt dabei erschreckend direkte Antworten auf die Frage nach dem Wert menschlicher Existenz zu. Als Sandra etwa ihre Kollegin Anne in deren neu gebautem Einfamilienhaus aufsucht und ihre Bitte formuliert, zögert diese. Sie würde sehr gerne für Sandra stimmen, aber sie und ihr Ehemann seien erst gerade in das neue Haus eingezogen. Ihr Mann wolle von dem Bonus lieber eine Steinterrasse legen lassen. Es ist die unerbittliche Banalität dieser Momente, die sich der Film auszuhalten traut und in denen er seine stärkste Wirkung entfaltet.

Gleichzeitig widerstehen die Dardenne-Brüder der Versuchung, die Beweggründe der einzelnen Figuren moralisch zu bewerten. Zumal viele das Geld ebenso dringend brauchen können wie Sandra, sei es für das Studium der Tochter oder einfach für die monatliche Miete. So bietet der Film dem Zuschauer wie seinen Figuren keinen einfachen Ausweg, sondern stellt vielmehr die Frage, ob Sandra und auch der Zuschauer nicht ähnlich handeln würden, wenn sie sich in der gleichen Position befänden.

Dass Deux jours, une nuit trotz der Besetzung mit Marion Cotillard (Inception, La vie en rose, Midnight in Paris) in der Hauptrolle beinahe losgelöst von deren Starimage funktioniert, liegt vor allem an deren zurückhaltendem, nuanciertem Spiel. Statt grosser, dramatischer Ausbrüche sind es die kleinen Gesten, die herausstechen und Sandras innere Gefühlslage offenbaren. Wenn Sandra immer wieder vor den Haustüren ihrer Arbeitskollegen steht, zögernd die Türklingel betätigt, die Hände ineinanderpresst und in quälend langen Momenten auf die Antwort aus der Gegensprechanlage wartet, den Blick auf den Boden gesenkt, nach Halt und Haltung ringend, und im nächsten Moment dem Gegenüber mit aller noch zur Verfügung stehenden Kraft in die Augen blickt, spürt man die existenzielle Bedeutung der Situation, schon bevor die ersten Worte fallen. Cotillard spielt ähnlich virtuos wie schon in Jacques Audiards De rouille et d’os (2012) eine gebrochene Frau, die sich über Verlust und Schmerz ihrer eigenen Existenz gewahr werden kann und so zurück ins Leben findet. Mitreissend lässt sich verfolgen, wie sich Sandra von ihrem zu Beginn gekrümmten, schleppenden Gang durch mal erfolgreiche, dann wieder niederschmetternde Begegnungen mit den Kollegen zunehmend (und das wortwörtlich) aufzurichten beginnt.

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Die Reduktion auf eine simple Handlung spiegelt sich auch auf formaler Ebene. Wie für die Dardenne-Brüder üblich folgt die Handkamera im dokumentarischen Stil der Hauptfigur auf Schritt und Tritt. In zahlreichen Nahaufnahmen bindet sich das Filmerleben direkt an Sandra, nur wenige Momente rücken von dieser reduzierten Ästhetik ab und lassen eine Distanzierung zu. Anders als noch in frühen Erfolgen wie Rosetta (1999), bei denen sich der physische Kampf mit der tristen Lebensumgebung in den mäandernden Bildern der wackligen Handkamera wiederfand, wirkt die Annäherung an die Hauptfigur wie schon in den letzten Werken oft beinahe vorsichtig-beobachtend und fängt so gerade die kleinen Momente ein, die durch Cotillards Spiel aufscheinen. Als Sandra einmal mehr mit ihrer Bitte bei einem Arbeitskollegen scheitert und hinter einem Auto auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants weinend zusammenbricht, folgt ihr die Kamera zunächst und verharrt dann doch einen Moment vor dem Wagen, nähert sich ihr nur behutsam, als wolle sie ihr eine Rückzugsmöglichkeit bieten und Freiraum gewähren.

«Ich bin ein Krüppel, ein Nichts!», entfährt es Sandra an einer Stelle mit lauter, klarer Stimme gegenüber ihrem Ehemann Manu, scheinbar die erste Gefühlsregung seit langer Zeit. Ein Ausruf, der auf den Kern der Dardenne’schen Versuchsanordnung verweist. Nicht nur der monetäre Wert einer menschlichen Existenz in der kapitalistischen Gesellschaft wird hier immer wieder schmerzhaft vor Augen geführt. Weiter noch stellt der Film die Frage, wie sich in einer solchen Gesellschaft, die den Menschen als reines Arbeitsmittel funktionalisieren und seinen Geldwert genau beziffern kann, die menschliche Daseinsberechtigung erhalten lässt. Die Brüder Dardenne antworten hierauf mit Momenten menschlichen Kontakts, in denen noch nicht alle Empathie gewichen ist; und einer bissigen Schlusspointe, die dennoch tröstlich erscheint: Sie erlauben Sandra mit vorsichtigem Optimismus einen Ausweg aus einer sonst alternativlos wirkenden Gesellschaft.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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