«Some of it is true.» Einiges davon sei wahr, heisst das; und so verhalte es sich unvermeidlicherweise, bliebe beizufügen. Mit den kargen fünf Silben quittieren die Angelsachsen allerlei fiktionalisierte Fakten oder faktionalisierte Fiktionen. Sie tun es immer dann, wenn es jene Schwelle zu bezeichnen gilt, die beim Wechsel vom einen zum andern überquert sein will: nach beiden Richtungen. Die Linien verlaufen unscharf zwischen dem Verbürgten und dem Verfälschten, derzeit etwa auch in The Wolf of Wall Street von Martin Scorsese, der einem autobiografischen Buch des Titelhelden folgt.
Um es exemplarisch hervorzuheben, bedient sich nun Stephen Frears seinerseits einer quasi aus dem Leben gegriffenen Mär und erlangt dabei den Anschluss wieder an seine Spitzenfilme Dangerous Liaisons von 1988 und The Queen von 2006. Und mit Philomena kehrt jetzt Judi Dench, im Gewand der Titelheldin, zu Aufgaben zurück, die ihr mehr abverlangen, als einfach ihr Selbst wirken zu lassen. Sieben Mal prästierte sie, milde zerstreut, die Chefin der Doppelnull: in einer überschätzten Standardrolle, wofür sie angemessen überbezahlt war, mehr aber noch überqualifiziert. Ehe dann der Abschied von den Pistoleros des Britischen Weltreichs überfällig wurde und von dessen verblasster Glorie damit. Erstaunlich ist, dass die zur dame kleingeadelte Darstellerin eher nur vereinzelt mit Stephen Frears gearbeitet hat.
Mit den Tatsachen nehmen es alle Figuren des Films, wie auch die darin vertretenen Institutionen, ziemlich ungenau, jede aus andern Gründen: eine leicht verwirrte alte Frau auf der Suche nach ihrem einstigen Sohn; die katholische Kirche Irlands mit ihren streng gebliebenen Konventen; die englische Schmuddelpresse, vertreten von einer rührigen Redakteurin und einem investigativen Schreiberling, der auch Bücher verfasst. Martin Sixsmith, so heisst er auch auf der Leinwand, veröffentlichte eines seiner Abenteuer, wie Frears es inzwischen adaptiert hat, vor vier Jahren und wird nun gespielt von Steve Coogan, einem Komiker.
Was versprechen sich die Protagonisten samt und sonders von Vertuschungen, Märchenphantasien, Nachforschungen, Erkenntnissen, Anklagen und Veröffentlichungen; und wann gerät das Ermitteln und Verbreiten der Wahrheit genauso zum Geschäft, wie wenn sie verschwiegen oder aufgemotzt wird? Ausserdem: Soll etwa die Lüge dann berechtigt sein, wenn sie die Unwahrheiten der andern entlarven hilft?
Die irischen Ordensschwestern haben sich unsäglich vergangen, aber die englischen Hetz- und Sensationsblätter desgleichen. Blindes Gewährenlassen und totalitäre Verklumpung der Macht rücken Schulter an Schulter und bedienen einander schamlos. Was nun Diktatur sei oder auch nur gängige Kungelei und was Parlamentarismus oder gar Rechtsstaat, war schon leichter auseinanderzuhalten; so sah es noch im späteren zwanzigsten Jahrhundert aus.
Da ist also Philomena, wörtlich «die innig Liebende», einst eine uneheliche Mutter, deren Sohn entführt wurde. Den Kleinen verquanteten vergrämte Gottesbräute vor fünfzig Jahren an betuchte Amerikaner, zwecks Adoption und unter falschem Namen. Um ihr verschollenes Kind spät noch zu treffen, spannt die Heldin mit dem zwielichtigen Sixsmith zusammen, der für ein dubioses Blatt arbeitet und ein publikumswirksames Rührstück wittert. Die kargen Spuren lenken das ungleiche Duo von Irland nach Washington und bis zur Identifikation des Gesuchten, um den es dann freilich ganz anders bestellt ist als vermutet und erwünscht. Nach der damaligen Deportation in die Neue Welt hat ihn das verheissene Glück anscheinend gefunden, leider war es von dürftiger Dauer.
Wie es war. Lies: “wahr”.
Voller Vertrauen in den Allmächtigen, in die offensiven Methoden ihres Fürsprechers und in die Frohmut und Zuversicht garantierende Erzählweise der Telenovelas und der Schundromane gehabt sich Philomena wie die Akteurin in einem Dutzenddrehbuch. Wofür sie allzeit bereit ist, der hinkenden Wahrheit nachzuhelfen: so, wie es von ihresgleichen erwartet wird, und übrigens auch von Judi Dench, die eigene reiche Erfahrungen mit TV-Serien vorweisen kann. Vergleichbar halten es auch die andern, etwa Sixsmith’ unzimperliche Redakteurin, die sich branchenüblich überzeugt, dass die simpelsten Anforderungen an eine saftige sob story, die Schluchzgeschichte, auch wirklich erfüllt werden.
Welches sind die Guten in einer jeden Intrige, und welches sind die Bösen? Die gleiche Frage könnten auch die irischen Ordensschwestern gestellt haben. Und dann: Wen machen wir diesmal wieder öffentlich zur Sau; werden unsere Leser sich selbstgerecht genug fühlen können und süssen Genuss und Gefallen finden an ihrer Geringschätzung anderer? Der nassforsche Sixsmith versteht seinerseits die Recherche, die wieder an ihren Ausgangspunkt in der Alten Welt zurückführen wird, als beliebigen Auftrag und als weidmännische Routine. Daher rührt seine Neigung, jede Unstimmigkeit zu ignorieren, sowie sie anderswohin zu führen droht als pünktlich, und zu überblickbaren Kosten, in Druckerei und Versand.
Spinning ist das Schlüsselwort: jenes handfeste Um- und Verdrehen des Unleugbaren, wie es die Diktaturen von jeher vormachen und wie es die Demokratien neuerdings imitieren. Spin doctors heissen die professionellen Zurechtdeichsler, die bürokratisch zu Abertausenden eingeteilt sind. Sie entkleiden widerborstige Vorkommnisse der ursprünglichen Bedeutung, um ihnen eine geschmeidigere überzuziehen. Fanatische Betschwestern, eine Papistin gebliebene Alte, ein skeptischer Skribent, eine ruppige Redakteurin: Sie erliegen allesamt der Versuchung, das Bekannte anders darzustellen, als es ist und als es war. Lies: “wahr”.
Es kommt wieder einmal anders
Gleichsam zur Erlösung tritt ein Moment kuscheligen Wohlgefühls ein: Als Philomena, wie aus Versehen, die angehäuften sob stories oder Schluchzgeschichten in ihrem Kopf und Gemüt ausblendet, um die Vergebung der Sünden zu praktizieren, statt von Gnade nur predigen zu lassen. Mit dem Erlass ist das Vergessen des Geschehenen verfügt, soweit es die beraubte Mutter angeht. Wie vom Zauberstab annulliert, sollen Verkennung, Verachtung, Verleumdung, Verfolgung, Vergeltung entfallen: alles, was nach Strafe und Rache bis übers Grab aussieht.
Für ein paar gespenstische Sekunden scheint das Christentum der ersten Tage auferstanden, ehe dann die Welt wieder zu den laufenden Geschäften zurückfindet. Und an dieser bestimmten Stelle vermag die eine Szene sehr wohl zu rühren, wiewohl nur kurz und kaum bis zu Tränen; währenddem sich der Film, über seine längsten Strecken hin, aller Rührseligkeit einer sob story entsagt, um sich lieber in Witz, Ironie und eleganten Dialogen zu üben.
Ein eher beiläufiger Auftritt suggeriert sanft, welche Wendung die Fabel im Rahmen einer ausgewachsenen Schluchzgeschichte genommen hätte. Umständehalber muss sich Philomena, für ein paar Minuten, von ihrem Adlaten Sixsmith als seine Mutter ausgeben lassen. Huh, da wäre kein Auge trocken geblieben: Enttäuschte Mutti begegnet am Ende doch noch einem grossen Buben, der ihr das verlorene Söhnlein ersetzt! Die Redaktion hätte gejauchzt, die Leserschaft geheult.
Es ist wieder einmal anders gekommen, doch davon bleibt der Lauf der Welt unberührt. Mit der Rückkehr an die Ursprünge, so wird einmal T. S. Eliot zitiert, schliesse sich das Leben zu einem Kreis. Und exakt so viel trägt sich, bis auf Weniges, in Philomena zu, bloss lässt dann der Zirkel, an der Hintertür, wieder einen Spickel offen. Denn Vorsicht, was schon einmal, anstelle des planmässigen, einen selbst gesteuerten Verlauf genommen hat, könnte es jederzeit wieder tun.
Keiner weiss wirklich Bescheid
In einem atemberaubenden Akt auf dem hohen Seil versteht es der Regisseur, alle Stränge gebündelt in der Schwebe zu halten, und Frears verkneift sich sogar das Belehrende und Tröstende, ja Erbauliche, das er dem Publikum vielleicht gern mitgegeben hätte. Die Guten und die Bösen bleiben säuberlich ungetrennt. Die Jahrzehnte haben die tiefsten Kontraste ohnehin verschliffen. Da ist kein Gehe-in-dich oder Bedenke-dass, ausser einem: Alles bleibt im Fluss, keiner weiss wirklich Bescheid, wie’s weiterläuft. Zudem ist nichts vornehm genug, als dass es keinen Missbrauch davon geben könnte.
Damit verfährt der Autor konträr zu jenem fadenscheinigen Marketing, das für jede einzelne Präferenz im Saal ein leicht verdauliches Zückerchen ins Skript hineinwurstelt: etwas für die Alten, die Jungen und die Kinder, für die gefürchtete Tea Party, die rabiaten Gutmenschen, die aufgebrachten Mütter und die wenig mitfühlsamen Europäer. Sucht euch was Schönes aus und arrangiert euch mit dem gepflegten Service. Frears verweigert jede Verköstigung. Die Knabberware ist im Lokal nebenan zu haben.