Wie gut ein Filmtitel ist, wissen Produzenten und Verleiher immer erst hinterher: nachdem sich erwiesen hat, ob er Anziehungskraft auf das Publikum ausübt oder nicht. Dieser hier hat den Vorzug, sich im Kino bereits bewährt zu haben (obwohl er Umberto Tozzis canzone wohl mehr zu verdanken hat als John Cassavetes wuchtigem Gangsterfilm; von Sidney Lumets unseligem Remake mal ganz zu schweigen) und keine nennenswerten Abnutzungserscheinungen aufzuweisen.
Filmemacher freilich müssen in der Regel mehr bedenken als das kommerzielle Potential eines Titels: Er soll den Film als eine bündige Formel vertreten, soll offenbaren, worum es in ihm geht, und Spuren auslegen, die der Zuschauer verfolgen möchte. Das glückt nicht in jedem Fall. Oft ist die Entscheidung das Resultat einer langen, kniffligen Suche. An Arbeitstiteln lässt sich das sehr gut erkennen, denn ihre Vorläufigkeit ist meist ein Indiz dafür, welche Wege ein Stoff nehmen kann, bis ein Filmemacher ihn endgültig in den Griff bekommt. Ursprünglich sollte der vierte Langfilm des Chilenen Sebastián Lelio einmal «Realismo maternal» heissen und den internationalen Titel «I’m Sorry, Mom» tragen. Zu diesem Zeitpunkt wäre es noch ein anderer Film geworden. Er hätte von einem Sohn gehandelt, der zur Wiederverheiratung seines Vaters in seine Heimatstadt zurückkehrt und einige Tage bei seiner Mutter wohnt. Auch in ihm wäre es zweifellos um das Auseinanderbrechen einer Familie gegangen, mit dem man sich einrichten muss. Der Mutter wäre wahrscheinlich eine undankbarere Rolle zugefallen als im fertigen Film. Der Arbeitstitel legt nahe, dass sie eher niedergeschlagen aus der Scheidung hervorgegangen wäre. Damals hiess sie noch Luisa, was zwar auch ein schöner Name ist, aber eben nicht ganz so hymnisch und erhebend klingt wie Gloria: Wäre die Attacke mit einem Paintball-Gewehr ebenso triumphal ausgefallen, wenn sie eine Luisa ausgeführt hätte, um sich am Schluss an einem wankelmütigen Liebhaber zu rächen?
Zu unserem Glück (und dem seiner Titelheldin) hat Lelio einen radikalen Perspektivenwechsel vorgenommen. Nun ist der Sohn eine Nebenfigur, die nur in ein, zwei Szenen auftritt. Und der mit einer jüngeren Frau verheiratete Exmann macht einen reichlich kläglichen Eindruck. Aus Gloria hingegen ist eine Figur mit ungeheurer Strahlkraft geworden. Paulina García spielt sie als eine Frau von Ende fünfzig, die mitten im Leben steht und dem Älterwerden und der Einsamkeit mit Optimismus und Neugierde begegnet. Sie ist eine wackere Träumerin und tüchtige Alltagsheldin, die ihre Scheidung vergleichsweise unbeschwert hinter sich gelassen hat. Natürlich enttäuscht es sie, dass Sohn und Tochter nicht mehr viel Zeit für sie haben. Aber sie hat es nicht aufgegeben, selbstbewusst Forderungen an das Leben zu stellen. Sie hält sich mit Yogakursen und Schwimmen fit, lacht gern und viel. Ihre Träume haben sich noch nicht verschlissen, der Hunger auf die Freuden des Lebens ist offensiv. Ihre Freizeit ist mit rastloser Aktivität gefüllt. Abends geht sie gern in Discotheken und auf Singlepartys, wo sie zum Vorschein kommen kann als das, was sie ist: eine attraktive, reife Frau. Ihre Heiterkeit stellt ein freibleibendes, erotisches wie romantisches Angebot dar. Einer kurzen Affäre ist sie selten abgeneigt.
Mit Rodolfo könnte es jedoch ernster werden. Auch er ist geschieden, wenn auch noch nicht so lange wie sie. Etwas ungeübt und nicht nur deshalb sehr charmant macht er ihr den Hof. Obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen gar nicht so gross ist, scheint er doch einer anderen Generation anzugehören. Es braucht seine Zeit, bis sich seine Gefühle aus der Deckung wagen. Lelio unterschlägt ihre Sexualität nicht, der Anblick ihrer nackten Körper geniert ihn nicht. Er zeigt, welche Spuren das Leben in ihnen hinterlassen hat. Die Bettszenen setzen eine grosse Sinnlichkeit frei, verstricken die Liebenden in einen behutsam forschenden Dialog. Die agil reagierende Handkamera Benjamín Echazarettas ist den beiden eine zärtliche Begleiterin. Bei aller Nähe sind allerdings die Figuren nicht das Mass aller Dinge für Lelios Inszenierung. Ab und an geht er auf Abstand zu ihnen, justiert ihr Verhältnis und seinen Blick neu.
Rodolfo fordert viel Aufmerksamkeit von Gloria, kann sie bisweilen auch selbst schenken. Auch für ihn bedeutet die Begegnung die Chance zu einem Neuanfang. Er ist herausgefordert. Für das neue Kapitel, das er in seinem Leben aufschlagen müsste, scheint er schlecht gerüstet. Er schleppt viel Unerledigtes mit sich herum: Seine Töchter durchkreuzen die Versuche einer Abnabelung; auch seine geschiedene Frau will sich nicht ganz von ihm lösen. Das Korsett, das er nach einer Magenoperation anlegen muss, trägt er als Zeichen der Veränderung, die er seinem Leben verordnen will. Aber taugt es nicht eher als Symbol für sein eingehegtes Gefühlsleben?
Lelio scheut vor derlei Metaphorik nicht zurück. Aber sein Film trägt leicht daran. Er bleibt stets persönliches Drama, bevor er sich als allegorischer Fingerzeig zu erkennen gäbe. Dezent bettet er die Liebesbegegnung der zukunftsdurstigen Frau mit dem rückwärtsgewandten Mann in die aktuellen Studentenproteste in Chile ein, in denen es um das existenzielle Unbehagen in einer neoliberalen Gesellschaftsordnung und die Forderung nach Respekt geht. Wie schon in seinen vorangegangenen Filmen, darunter der in Locarno ausgezeichnete La sagrada familia, bemüht sich Lelio auch diesmal um eine kammerspielhafte Konzentration, um die atmosphärische Erkundung eines zeitlich und räumlich eng begrenzten Erzählterrains. Wollte man dies auf die Gesellschaft extrapolieren, vermittelt Gloria eine optimistische Botschaft: Was seiner Heldin passiert, muss nicht ihre letzte Chance bleiben.