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Place beyond pines 01

The Place Beyond the Pines

Als «Lonesome Luke & the Heartthrobs» wird der Mann angekündigt; das könnte auch der Name einer Band sein. Luke (ein erblondeter Ryan Gosling) ist unstet, ruhe- und heimatlos. Mit der Show zieht er von Stadt zu Stadt. So einen coolen Hund” stellt man sich als Herzensbrecher, aber gewiss nicht als Familienvater vor. Aber genau an diesem Scheideweg steht er jetzt.

Text: Frank Arnold / 12. Juni 2013

Schwarzfilm, ein Keuchen aus dem Off (das das physische Element des Films betont), dann der tätowierte muskulöse Oberkörper eines Mannes. Er zieht ein Hemd an und verlässt den Raum, bewegt sich vorwärts durch die Menschenmassen auf einem Rummelplatz, betritt ein Zelt, setzt einen Helm auf, steigt auf ein Motorrad und fährt damit in eine Kugel, deren metallenes Gittergeflecht den Zuschauern einen guten Einblick gewährt. Gemeinsam mit zwei weiteren Motorradfahrern führt er in der Kugel Kunststücke vor. Das alles wird in einer einzigen ungeschnittenen Einstellung gezeigt, bei der die Kamera stets nahe am Mann dranbleibt, dem sie in leichter Aufsicht folgt.

Was für ein Anfang, kraftvoll und selbstbewusst. Hier lässt ein Filmemacher seine Muskeln spielen. The Place Beyond the Pines ist der Nachfolgefilm von Blue Valentine, mit dem Derek Cianfrance 2010 auf sich aufmerksam machte.

Als «Lonesome Luke & the Heartthrobs» wird der Mann angekündigt; das könnte auch der Name einer Band sein. Luke (ein erblondeter Ryan Gosling) ist unstet, ruhe- und heimatlos. Mit der Show zieht er von Stadt zu Stadt. So einen “coolen Hund” stellt man sich als Herzensbrecher, aber gewiss nicht als Familienvater vor. Aber genau an diesem Scheideweg steht er jetzt. Das Wiedersehen mit Romina, die er bei seinem letzten Gastspiel vor einem Jahr in dieser Stadt getroffen hat, wirft seine (Nicht-)Lebensplanung über den Haufen. Denn Luke erfährt, dass er damals einen Sohn gezeugt hat. Vaterschaft, Verantwortung, ein bürgerliches Familienleben: So recht kann sich das keiner vorstellen, der Zuschauer nicht, Romina nicht und Luke wohl auch nicht. Aber immerhin: Er kündigt seinen Job, beschliesst, sich in dieser Stadt niederzulassen und für seinen Sohn da zu sein. Was nicht ganz einfach ist: Denn Romina hat nicht nur ihre Skepsis, sondern mittlerweile auch einen anderen Mann, Kofi, einen sanftmütigen Farbigen, der in allem als das Gegenteil von Luke erscheint.

Als Luke einmal unangekündigt bei Romina und Kofi auftaucht und ein Babybett mitbringt, das er unter den skeptischen Blicken von Rominas Mutter im Kinderzimmer zusammenschraubt, bleibt eine Auseinandersetzung nicht aus. Die Aufforderung, das Haus zu verlassen, ignoriert Luke einfach und schlägt Kofi mit seinem Werkzeug direkt ins Gesicht. Danach steht er wie versteinert da und begreift endlich, dass er damit jede Hoffnung auf eine normale Beziehung zu seinem Sohn und zu Romina zerstört hat.

Luke muss in den Knast, wo ihn sein Kumpel Robin herausholt. Der Besitzer einer kleinen Motorwerkstatt ist aber auch Komplize: Er hat Luke nicht nur einen Job gegeben, sondern raubt mit ihm Banken aus. Blitzschnell rein und raus, auf dem Motorrad weg und in einem Lkw verschwinden, mit dem Robin wartet. Die Methode hat ein paarmal funktioniert. Nach dem kurzen Knastaufenhalt weiss Luke aber, dass es für ihn an diesem Ort so nicht weitergehen kann – und das macht ihn tollkühn: Zwei Überfälle an einem Tag ist sein Plan.

Für Luke ist die Beute eine Möglichkeit, seinem Sohn ein besseres Leben zu garantieren, den Behälter mit dem Geld muss er Romina allerdings regelrecht aufdrängen. Für Luke sind die Banküberfälle wohl eher ein Ventil für seine Energie. Ryan Gosling spielt Luke als die verwegenere Variante seines «Driver» – mit ähnlich professioneller Kaltblütigkeit, aber zugleich mit deutlich weniger Kontrolle über seine Gefühle. Die Chance, sich von einer anderen Seite zu zeigen, gewährt ihm The Place Beyond the Pines (anders als Drive von Nicolas Winding Refn) nicht wirklich.

Nach dem nächsten Überfall ist ihm die Polizei hart auf den Fersen, er flüchtet zu Fuss in ein Haus, wo er von einem Streifenpolizisten gestellt wird, ein Schusswechsel, Luke stirbt. An diesem Punkt wechselt die Perspektive, der Zuschauer wird mit einer neuen Identifikationsfigur konfrontiert. Die Geschichte des Streifenpolizisten Avery Cross beginnt. Seine Einführung war eher beiläufig. Wir sahen ihn am Steuer eines Wagens, als er über Funk von der Verfolgung des Bankräubers erfährt. Ein beredter Gegensatz zur Einführung von Luke, mit der der Film begann und die diese Figur vom ersten Augenblick an als überlebensgross charakterisierte.

Avery ist eine durchaus zwiespältige Figur. Als Sohn eines Richters hat er einen Juraabschluss, weshalb es ihn wurmt, dass er sich bei der Polizei von unten hocharbeiten muss. Nachdem er so plötzlich zum Helden geworden ist, erwartet er, dass das sein Vorankommen auf der Karriereleiter beschleunigen wird. Doch sein Vorgesetzter bremst ihn aus: trotz der Vorschläge, die Avery zur Umstrukturierung der Polizei vorgelegt habe, könne er ihn nicht einfach zum Sonderermittler ernennen.

Eines Abends tauchen bei Avery drei Kollegen unangemeldet zu Hause auf und wollen ihn gebührend feiern. Das bedeutet für sie, im Haus von Romina und Kofi nach der Beute aus den Banküberfällen zu suchen. Den Hinweis auf den fehlenden Hausdurchsuchungsbefehl weist ihr Anführer Deluca mit der Bemerkung zurück, Romina solle das ignorieren, dann würde er ignorieren, dass ihre Mutter vermutlich keine Aufenthaltsgenehmigung habe. Diesen Deluca spielt Ray Liotta einmal mehr als eine wahrhaft furchteinflössende Figur – als er breitbeinig am Küchentisch von Romina und Kofi Platz nimmt, genügt schon ein Blick, um seinem Gegenüber und dem Zuschauer Angst einzujagen.

Die Hälfte der gefundenen 14 000 Dollar überreicht man Avery, der das Blutgeld mit schlechtem Gewissen versteckt. Uneigennützig war diese Aktion seiner Kollegen nicht: Seinen neuen Posten in der Asservatenkammer soll Avery nutzen, um ihnen Drogen zu besorgen – ein gefährliches Spiel, das Avery mit einem Schritt nach vorn beendet. Mit dem Staatsanwalt macht er einen Deal: Er liefert seine korrupten Kollegen ans Messer, dafür macht ihn der Staatsanwalt zu seinem Stellvertreter. «Ich mache Sie zu meinem Stellvertreter, aber Ihre Hand schüttle ich nicht!» Damit kann Avery leben, er hat seine Lektion schnell gelernt. Er ist ehrgeizig, aber ob seine Moral sich wirklich nur daran ausrichtet, ist ungewiss. Der jungenhafte Charme von Bradley Cooper lässt viele Interpretationen zu.

Fünfzehn Jahre später ist Avery erfolgreicher Politiker, der gerade für den Posten des Staatsanwalts von New York kandidiert. Dass ihm seine getrennt von ihm lebende Ehefrau gerade jetzt den gemeinsamen Sohn AJ aufhalst, ist überhaupt nicht willkommen. Luke hatte die Chance, seinem Sohn Jason Vater zu sein, verspielt, Avery hat sie für seine Karriere geopfert. Bei Luke haben wir nicht erfahren, ob er es geschafft hätte, ein guter Vater zu sein, bei Avery erfahren wir nicht, ob er es überhaupt versucht hat. Das sind Lücken des Films, die die Imagination des Zuschauers beflügeln. AJ ist jedenfalls ohne väterliches Leitbild aufgewachsen, nimmt Drogen. Dass er, als Neuankömmling an der Schule ein Aussenseiter, für die Beschaffung der Drogen einen anderen Aussenseiter, nämlich Jason, auswählt, ist nicht unlogisch, aber auch Teil der dramaturgischen Konstruktion. Als Jason in AJs Haus ein Foto von Avery in Polizeiuniform sieht, von seinem Stiefvater den Namen seines richtigen Vaters erfährt und mithilfe des Internets den Rest herausbekommt, entführt er Avery in den Wald, zwingt ihn, auf dem Boden niederzuknien und richtet eine Pistole auf ihn.

Ist die Tragödie unvermeidlich? In Averys Brieftasche findet Jason jenes Familienfoto, das zuvor schon verschiedentlich auftauchte. Reicht das aus, um Avery das Leben zu retten? Sicher ist, dass Jason seinen Frieden gefunden hat und dass es in The Place Beyond the Pines nicht um Rache geht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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