Da thront er, tief in seinem Sessel versunken mit zerfurchter Wange, hoher Stirn, hoher Erscheinung, die Hände gravitätisch vorne auf der Armlehne, und schaut aus sechs Metern Höhe über uns. Der sechzehnte Präsident der USA, von Daniel Chester French in Marmor verewigt. Auch grossgewachsene Besucher kommen sich im Lincoln Memorial zu Washington winzig vor. Und nun ist es, als sei eben dieser Lincoln aufgestanden und in Steven Spielbergs Film hinüberspaziert, auch hohe Stirn, hohe Erscheinung und gravitätisch.
Auf der Leinwand aber hat er eine dünne Stimme, die scheinbar plauderig Storys zum Besten gibt. Etwas Skurriles ist um ihn, also etwas Menschliches. Manchmal scheint er mehr zu sich selber als zu den Anwesenden zu sprechen. Ein wenig ist er gebeugt, als halte nur der Zylinder den müden Kopf aufrecht, der aber hellwach ist. Wenn er zaudert, ist es nicht, weil er schlummert, sondern weil er räsoniert und weiter denkt als andere. Er begibt sich auf morastigen Boden und reitet stumm zwischen den Leichenbergen eines mörderischen Kriegs. Feine Handschuhe hasst er. Er findet mit den Leuten den Ton, ohne jovial zu sein oder zu viel Nähe zu vergeben. Mehr staatsmännisches Charisma und provinzielle Spröde kann gleichzeitig fast nicht sein.
Bodenhaftung angesichts des Mythos ist auch das, was die Erzählung von Spielberg und Drehbuchautor Tony Kushner (Angels in America, Munich) auszeichnet. Darstellerisch macht Daniel Day-Lewis das Wunder möglich, der bisher letzte von ungefähr dreihundert Kino-Lincolns seit 1911. Bekannt dafür, dass er, einmal in eine Rolle geschlüpft, den ganzen Dreh lang auch drin bleibt, hält dieser Ausnahmeschauspieler den Film unfehlbar in der Balance: zwischen dem hagiografischen Sentiment des historischen Bio-Pics, das Spielberg durchaus bedient, und der Vergegenwärtigung eines politischen Diskurses.
Der Film ist eigentlich gar kein Bio-Pic. Lincoln ist wohl Zentrum des Films, aber die Handlung beschränkt sich auf eine kurze Zeitspanne von wenigen Monaten während des Sezessionskriegs: von der Wiederwahl zur zweiten Amtszeit bis zur (nicht gezeigten) Ermordung am 15. April 1865. Der Präsident tut das, was seine historische Aufgabe (und Leistung) ist: den das Land auch moralisch auslaugenden Bürgerkrieg beenden und die schwarzen Menschen zweiter Klasse den andern Bürgern gleichstellen. Die Union ist zu retablieren und die Sklaverei aufzuheben, festgeschrieben im 13. Amendment, dem dreizehnten Zusatzartikel zur US-Verfassung.
Als was für Körperschaften die abtrünnigen Südstaaten zu behandeln seien, war für Lincoln dabei ein grundsätzliches und diffiziles legalistisches Problem, das ihn erst zögern liess. So höhnten ihn die Anti-Abolitionisten «Abraham Africanus, the First», den andern war er zu wenig radikal. Frieden also und – für ihn erst nicht prioritär – Abschaffung der Sklaverei. Die Fragen lauten: Ob beides gleichzeitig zu bewerkstelligen sei? Ob erst das eine und dann das andere – und in welcher Reihenfolge? Oder ob das eine nicht, um das andere, als Kuhhandel, politisch durchzubringen? Tatsache ist, Sezessionskrieg und Sklavenfrage sind ursächlich miteinander verquickt – schon der Filmprolog macht dies als Hauptgrund des Kriegs klar. Weitere kulturelle, wirtschaftliche und internationale politische Faktoren klingen bestenfalls an.
Was diese Schullektion uns nun als eigentliche Story von 151 Minuten Spieldauer erzählt, ist Lincolns Kampf um die nötigen Stimmen im Kongress, einem manchmal chaotischen Laden saftigster gegenseitiger Beschimpfungen. Dabei entpuppt sich der Präsident als der im Notfall beherzte Realpolitiker, der weiss, dass die Kompassnadel zwar immer nach Norden zeigt, man aber auf dem Weg dahin einen Sumpf auch mal zu umgehen hat und die Schuhe nicht blank bleiben. Die drei Stimmenjäger, die er engagieren lässt, wankelmütige Demokraten (damals die Partei des antiabolitionistischen Südens) zu ködern und zu kaufen, kommen denn auch wie die Rüpel des Shakespeare-Dramas daher und sorgen für komische Tupfer im ernsten Drama.
Lincoln ist nahrhafte Kost – in jeder Beziehung. Nicht vertraut mit Namen, Daten und Schlachten jener Jahre US-Geschichte, gerät man leicht ins Schwimmen. Es herrscht ein Kommen und Gehen von Namen und Haltungen in einem dicht und sophisticated gewobenen, vom Dialog angetriebenen Drehbuch. Wie Kushner aber allein die grossen Statements der Gettysburg-Address 1863 oder Lincolns zweiter Inaugurationsrede 1865 dramaturgisch “versorgt”, ist ebenso elegant wie die berührende Szene im Schlafzimmer des radikalen Abolitionisten Thaddeus Stevens (magistral: Tommy Lee Jones), in der wir den Text des 13. Amendments endlich zu hören bekommen.
Spielberg und seinem langjährigen Kameramann Janusz Kaminski mit seinen chiaroscuro-tableaux gelingt es dynamisch, Theatralisches fernzuhalten, ohne das Bühnenmässige, das dem politischen Diskurs nun mal innewohnt, zu verleugnen. Es geraten dabei Sequenzen von erhabener Grösse, von Pathos ohne Pathos sozusagen: der intime Moment, der Stevens’ Radikalität schlagartig begreifen lässt. Oder wenn Lincoln und sein siegreicher General Ulysses S. Grant dem besiegten Konföderierten-General Robert E. Lee auf seinem Pferd die Reverenz erweisen. Die Grossmut ist leicht einsehbar als politisch aktuelle Chiffre für Generosität – heisst: für den unentbehrlichen politischen Blick auf das Gesamtwohl, auf das eigentliche demokratische Prinzip eben, das im Zeichen von Tea und andern Partys den heutigen USA so deprimierend abhanden gekommen ist.