Als Yann Martels Roman 2001 erschien, war er einer dieser überraschenden Treffer ins Schwarze, mit einer ebenso verrückten wie fesselnden Geschichte, so elegant geschrieben und clever konstruiert, dass er den Man Booker Prize gewann und sieben Millionen Mal verkauft wurde. 2003 dann die deutsche Übersetzung mit dem pragmatischen Titel «Schiffbruch mit Tiger», und die Kritiker überschlugen sich. Von «kleine literarische Sensation» bis «Hohelied auf die Macht des Erzählens» reichten die Urteile, doch es gab auch den Vorwurf der «Trivialität» und der «postmodernen Remix-Religiösität». Lange Zeit galt der Roman als unverfilmbar, doch nun hat Ang Lee, «das grosse Chamäleon unter den zeitgenössischen Regisseuren» (Todd McCarthy), daraus einen ungewöhnlich schönen Film gemacht, dazu noch in 3D aufgenommen, das seit Scorseses Hugo nicht mehr so aufregend und überzeugend genutzt wurde. So ein wenig ahnt man, was Ang Lee an diesem Stoff gereizt haben muss. Lee, 1954 in Taiwan geboren, 1978 nach Amerika ausgewandert, ist ein Grenzgänger zwischen Ost und West. Die Begegnung zwischen asiatischer und amerikanischer Kultur, aber auch unterschiedliche Erzählweisen, haben sein Werk geprägt. Der Studie von Liebe, Familie und taiwanesischer Tradition in Eat Drink Man Woman (1994) steht die werkgetreue Jane-Austen-Verfilmung Sense and Sensibility (1995), ein urenglisches Thema, gegenüber, dem virtuosen Kung Fu in Crouching Tiger, Hidden Dragon, 2001 immerhin mit vier Oscars ausgezeichnet, folgte das sensible Schwulendrama Brokeback Mountain, das 2005 in Venedig den Goldenen Löwen und später drei Oscars einheimste. Martial Arts und Western, Drama und Horror, Mainstream und Arthouse, nun, nach Taking Woodstock (2009), noch so einem amerikanischen Mythos, wieder eine Literaturverfilmung, diesmal in Vorderasien angesiedelt, und diese erzählerische Vielfalt, dieses Nebeneinander von Genres, prägt auch Life of Pi. Ein Abenteuer, ein Märchen, eine Parabel, ein Familienporträt, eine Robinsonade, eine Geschichte übers Erwachsenwerden und über den Kampf Mensch gegen Natur, eine Geschichte, die sich darüber hinaus mit dem Wesen des Geschichtenerzählens beschäftigt – das alles klug und makellos konstruiert und zu einem packenden Drama zusammengeführt.
Ang Lee entführt uns in die siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, ins südindische Pondicherry, das mit den satten fröhlichen Farben und dem quirligen Leben wie ein Paradies anmutet. Hier wächst der kleine Piscine Millitor Patel, der sich selbst (aus gutem Grund) den Spitznamen Pi gibt, als Sohn eines Zoobesitzers auf. Beim Versuch, sich mit einem bengalischen Tiger namens Richard Parker anzufreunden, erteilt ihm sein Vater eine grausame Lektion über die Beziehung zwischen Mensch und wildem Tier: «Der Tiger ist nicht dein Freund!» sagt Vater Patel. «Tiere denken nicht wie wir. Wer das vergisst, wird getötet!» Eine Lektion, die sich Pi förmlich ins Gedächtnis einbrennt. Bezüglich des Lebens und des Glaubens hat der Junge so seine eigenen Theorien, und so ist Pi mit gerade mal zwölf Jahren nicht nur Hindu, sondern auch Christ und Moslem. Denn: Nicht auf die Religion kommt es an, sondern auf den Glauben. Lee etabliert hier, in den humorvollsten Minuten des Films, eine Idylle und zeichnet, mit Blick für genau umrissene Charaktere und authentisch eingefangenem kulturellen Hintergrund, ein warmherziges, unbeschwertes Familienleben mit liebevollen Eltern und hilfsbereitem Bruder. Fünf Jahre später erhält die Idylle einen Riss. Mr. Patel muss seinen Zoo schliessen und wandert mit seiner Familie und einigen wenigen Tieren auf einem japanischen Frachter nach Kanada aus. Doch bei einem nächtlichen Sturm geht das Schiff unter, nur Pi schafft es, in ein Rettungsboot zu klettern.
Eine erstaunliche Szene, die von Ang Lees grosser Meisterschaft zeugt. Anstatt den Zuschauer mit unsteter Kamera, schnellen Schnitten oder extremen Nahaufnahmen die Orientierung zu rauben, nutzt er längere Plansequenzen, weiche Montage und nahtlos eingefügte Spezialeffekte, um ihn durch das von der Natur angerichtete Chaos zu führen. Die Wellen scheinen in beeindruckendem 3D in den Zuschauerraum zu schwappen. Und während man unwillkürlich zurückschreckt, fesselt einen das fast schon surreale Bild eines Schiffes, das hellerleuchtet in der Tiefe verschwindet.
Als sich der Sturm gelegt hat, muss Pi feststellen, dass er sich das Boot mit einem schwerverletzten Zebra, einer wild gewordenen Hyäne, einem verschreckten Orang-Utan, einer flinken Ratte und – noch unter einer grossen Persenning verborgen – mit Richard Parker teilt. Das Gesetz des Dschungels sorgt rasch dafür, dass Pi allein ist mit dem bulligen Tiger. Und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich ein Floss zu bauen und, nur durch eine Leine verbunden, in sicherer Entfernung hinter dem Boot herzuschaukeln. Wochen und Monate gehen so dahin, die Beziehung zwischen Mensch und Tier wandelt sich von angsterfülltem Auf-der-Hut-sein zu so etwas wie respektvoller Annäherung, vielleicht sogar Freundschaft – am Schluss wird die Reise 227 Tage gedauert haben.
Eingebettet ist diese Story in eine Rahmenhandlung, angesiedelt in Montreal. Ein Schriftsteller interviewt den erwachsenen Pi, der somit seine Geschichte im Nachhinein auffächert. Doch ist er ein zuverlässiger Erzähler? Einiges entspringt seiner Phantasie, anderes deutet er um, und einmal geht es sehr traumverloren zu. Da berichtet Pi von einem märchenhaften Zwischenstopp auf einer wandernden Insel voller Rhesusäffchen. Eine Art Fata Morgana, in der man sich nicht verlieren darf, und gleichzeitig allegorische Warnung, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Ang Lee hat an Originalschauplätzen in Indien und in Taiwan gedreht, wo ein riesiger Wassertank – 70 Meter lang, 30 Meter breit und vier Meter tief – die Illusion von Meeresweite ermöglicht. Die kreisende Kamera findet stets neue Standpunkte und scheint auf der Wasseroberfläche mitzuschaukeln, so dass sich die ständige Bewegung des Meeres dem Zuschauer unmittelbar mitteilt. Einige Szenen, der Schiffsuntergang etwa, sind komplett im Computer entstanden, ebenso Richard Parker. Erstaunlich, wie lebensecht und gefährlich er wirkt. Man möchte nicht mit ihm in einem Boot sitzen.
Ang Lee hat die dramaturgischen Fesseln, die ihm die Vorlage anlegte, immer wieder gelockert. Kleine Zufälle und Überraschungen, praktische Überlebensstrategien und märchenhafte Bilder, Prüfungen und Zwischenspiele – da ist genug, was das Interesse des Zuschauers wach hält. Wann hat man schon einmal einen seekranken Tiger im Kino gesehen? Die Szene, in der ein plötzlicher Schauer von fliegenden Fischen über Pi und Richard Parker hinwegbraust, ist schlichtweg spektakulär, nicht zu vergessen ein massiver Sturm, der über die Schiffbrüchigen hereinbricht. Sehr viel stiller, von einer poetischen Grandezza ist jenes Bild, in der unzählige Leuchtfische wie Glühwürmchen das dunkle Meer erhellen. Die Begegnung mit einem majestätischen Blauwal schlägt hingegen die Brücke zu Robert Zemeckis’ Castaway. Momente, die von der spirituellen Hingabe des Protagonisten zeugen. Gefühle wie Angst, Einsamkeit und Verlust, die durch die ständige Lebensgefahr, sei es durch das endlose Meer, sei es durch den unberechenbaren Tiger, wach gehalten werden, begegnet der Film mit emblematischen Bildern, die das Wunder und die Schönheit der Schöpfung feiern. Ang Lee durchbricht immer wieder die Grenzen des Realismus und etabliert eine Magie, die den Zuschauer bis zum Schluss gefangen hält.