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Locarno direktorin

«Wenn es nicht regnet, finden Sie keine Pilze»

Meine grösste Angst? Nicht genügend von ­diesen Filmen zu bekommen. Ein Filmfestivaldirektor kann die Filme ja nicht selbst produ­zie­ren. Sie können nicht zeigen, was nicht existiert – oder was ­Ihnen verweigert wird.

Text: Walt R. Vian / 01. Aug. 2001

FILMBULLETIN Was ist Ihre Hoffnung für Locarno?

IRENE BIGNARDI Meine Hoffnung für Locarno ist, das bestmöglichste Filmfestival in der Tradition von Locarno zu machen. Ich hoffe, Locarno ändere sich nicht, und falls es sich doch ändert, dann nur zum besseren. Vielleicht erhofft sich ­jemand ein Festival mit mehr Glamour. Ich aber finde es wichtig, dass der Geist von Locarno lebendig bleibt.

FILMBULLETIN Was ist Ihr ­persönlicher Ehrgeiz?

IRENE BIGNARDI Ich möchte gerne das Programm mit den ­bes­ten für Locarno geeigneten Filmen füllen. Wir halten Ausschau nach neuen Sichtweisen auf die Welt, nach neuen ­Stimmen, neuen Tönen. Ich hoffe, das Beste, was es in dieser Richtung gibt, nach Locarno zu bekommen.

FILMBULLETIN Und wovor ­haben Sie andererseits am meis­ten Angst?

IRENE BIGNARDI Meine grösste Angst? Nicht genügend von ­diesen Filmen zu bekommen. Ein Filmfestivaldirektor kann die Filme ja nicht selbst produ­zie­ren. Sie können nicht zeigen, was nicht existiert – oder was ­Ihnen verweigert wird. Als Gillo Pontecorvo Direktor von Venedig war, pflegte er zu sagen: «Wenn es nicht regnet, können Sie auch keine Pilze finden.» Ich meine, Sie können Pilze suchen, aber wenn das Wetter zu heiss ist, dann werden Sie keine ­finden. Meine grösste Furcht ist ­also: keine Pilze zu finden.

Wir sind jetzt bei der Auswahl der Filme kurz vor der ­Mitte. Wir haben schon gutes Ma­terial, aber alles hängt noch am Rest. Wenn wir nach unten ­gehen, bin ich unglücklich. Wenn wir auf dem gleichen ­­­Ni­veau bleiben, bin ich zufrieden. Wenn wir sogar noch zu­legen können, dann bin ich glücklich.

FILMBULLETIN Wieviel Freiheit haben Sie bei der Gestaltung ­Ihres Programms? Nicht vom Organisatorischen, sondern vom Markt her?

IRENE BIGNARDI Von präsidialer Seite habe ich die totale Freiheit, aber vom Markt her habe ich kaum eine Freiheit. Auf dem Markt gibt es einen sehr starken Wettkampf und viel Konkur­renz. Es gibt Filme – das heisst Produzenten, Regisseure, Filmemacher –, die genau wissen, dass Locarno der beste Ort für sie ist. Es gibt andere, die davon nicht so überzeugt sind und die möglicherweise insbesondere von den Meerjungfrauen von Venedig verführt werden könnten. Nach uns kommen auch gleich die Filmfestivals von San Sebastian, Montreal und Toronto – es ist ein sehr vollgestopfter Zeitraum. Meine Freiheit wird begrenzt durch den Wettbewerb mit den andern Festivals. Es gibt Filme, die auf eine natürliche Art wie für uns geboren sind. Aber es gibt andere, die wir sehr gerne hätten, die aber den Begehrlichkeiten des Wettbewerbs unter den Festivals ausgesetzt sind. Freiheit in diesem Sinn existiert also nicht. Es ist ein Kampf, bei dem der Stärkere überlebt – wir werden sehen.

FILMBULLETIN Ihre beste ­Chance ist demnach, die Leute davon zu überzeugen, an ein schönes Festival zu kommen, weil es ein schönes Festival ist.

IRENE BIGNARDI Es gibt da zum Beispiel einen kleinen Film, den ich sehr schön finde, delikat, ­zerbrechlich. Der Produzent des Films möchte nach Venedig, weil es sich besser macht, wenn Sie Venedig auf Ihr Filmplakat schreiben können. Aber der ­Regisseur würde lieber nach ­Locarno kommen, weil er ganz klar weiss, dass sein Film hier verwöhnt, im Zentrum einer gewissen Aufmerksamkeit stehen, jedenfalls anders behandelt ­würde als in einer Nebensektion von Venedig.

In diesen Tagen mache ich fast nichts anderes, als all den Leuten zu erklären, was wir für ihre Filme machen können. Es ist eine komplizierte Arbeit, die sehr diplomatisch gemacht werden muss. Insgeheim rufe ich manchmal: Fahrt doch alle zur Hölle. (lacht) Und doch muss man diese Überzeugungsarbeit leisten. In diesem Sinne ist es ein bisschen härter, in Locarno zu ­arbeiten als an einem Ort wie Venedig. Frei heraus gesagt, glaube ich aber wirklich, dass es für einige Filme eine besseres Schicksal gibt, wenn sie zu uns kommen. Und so kämpfe ich weiter.

FILMBULLETIN Wo sehen Sie Ihre Position zwischen Kultur und Business?

IRENE BIGNARDI Gibt es eine Business-Seite? Ich will so wenig wie möglich von der Geschäftsseite wissen. Ich habe genug ­damit zu tun, meine Position als Filmkritikerin verlassen und damit das Recht aufgegeben zu ­haben, Dinge über andere zu sagen, wie es mir beliebt. Ich verfolge ein kulturelles Projekt, will ein Festival machen, an dem ich ­Filme zeige, die ich liebe oder die mir interessant erscheinen. Es gibt ja auch Filme, die man vielleicht nicht liebt, die aber wichtig und interessant sind oder zu einer Debatte führen. Was ich also machen will, ist ein Festival, auf dem jeder Film ­entweder geliebt oder als inter­essant betrachtet wird, weil er für etwas steht, weil er eine ­Tendenz, ein Land, eine Idee, ein Problem repräsentiert.

FILMBULLETIN Das ist wunderbar. Aber es gibt auch Realitäten.

IRENE BIGNARDI Auch im Filmbusiness gibt es wunderbare Leute, die sehr genau verstehen, welche Filme richtig für diese und für jene Sektion sind, die uns helfen, das grosse Puzzle, das ein Festival-Programm ­darstellt, zusammenzusetzen. Andererseits gibt es natürlich die ­Leute, die nichts verstehen und nur versuchen, uns dazu zu zwingen, die falschen Filme am falschen Ort zu zeigen – oder den richtigen Ort mit dem falschen Film zu besetzen.

FILMBULLETIN Nicht nur ­Locarno, alle Festivals sind in den letzten zwanzig Jahren gewaltig gewachsen. Ist es, um überleben zu können, notwendig geworden, immer grösser zu werden?

IRENE BIGNARDI Ja und nein. Ich denke, es gibt eine physio­logische Grenze. Strukturell ist Locarno an seine Grenzen an­gelangt. Ich werde nicht einen einzigen Film mehr zeigen als in den vergangenen Jahren. Ich denke, wir können an Qualität noch wachsen, aber nicht an Umfang. Locarno hat seine Grösse erreicht, aber was wir sicher ­machen können, ist, an jedem einzelnen Film, an jedem einzelnen Ereignis zu arbeiten und es zu verbessern. Ich will nicht ­klagen, denn ich liebe Locarno, wie es war – aber man kann die Dinge immer verbessern.

Paradoxerweise kann der Erfolg sozusagen auch gegen die Qualität arbeiten. Ich meine, es gibt einen Punkt, wo ein Festival aufhören sollte zu wachsen und damit beginnen sollte, tiefer zu graben.

FILMBULLETIN Sie erinnern sich an die Zeit, als Locarno noch im kleinen Park des Grand Hotels stattfand. Seither wurde es ­grösser und grösser. Fürchten Sie nicht, Locarno könnte seinen ­Charme verlieren?

IRENE BIGNARDI Ich werde nicht mehr Filme programmieren als bisher, auch keine neue Sektion hinzufügen. Manchmal denke ich zwar, dass uns in der genauen Aufteilung zwischen den drei Sektionen «Piazza ­grande», Wettbewerb und ­«Cine­astes du présent» ein Label für eine Anzahl von interessanten Filmen fehlt, die entweder zu klassisch oder zu traditionell sind. Ich musste einige interessante Filme auf der Seite lassen, weil sie in keine unserer Schubladen passten, und das bedaure ich. Aber sicher lasse ich das Programm nicht wachsen. Es ist unmöglich, es ist eine physische Unmöglichkeit und andererseits würde es auch zuviel.

Vielleicht, ich sage viel­leicht, definiere ich die faszinierende Sektion «Cineastes du ­présent» etwas um, denn es ist auf jeden Fall diese Sektion, mit all den Videos und Digitals von ganz unterschiedlicher Länge, die etwas unkontrollierbar wächst. Manchmal fühlt man sich überschwemmt von der Quantität der Vorschläge, und man nimmt zuviele.

Aber, wie dem auch sei, ­Locarno wird für eine Weile so bleiben, wie es ist. Wir werden besser arbeiten und werden versuchen, uns in allen Teilen zu verbessern.

Das Gespräch mit Irene Bignardi führte Walt R. Vian. Es wurde anfangs Juni aufgezeichnet.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2001 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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