Die unvergleichliche und lebenskluge Juliette Gréco singt in Les invisibles das Chanson «Le monsieur et le jeune homme» von Guy Béart. Man lauscht Worten wie «Un monsieur aimait un jeune homme. Surtout, ne nous affolons pas: Regardons autour de nous comme chaque amour va son propre pas.» Das passt zum Grundtenor des Werks. Wobei ergänzend anzufügen bleibt, dass im bewegenden und intelligenten Film von Sébastien Lifshitz neben gewissen Männern selbstverständlich auch gewisse Frauen gemeint sind. Alle sind sie einiges über siebzig, wurden also in der Zeitspanne zwischen den Weltkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts geboren, stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten in urbanen oder ländlichen Regionen Frankreichs. Und alle waren sie jung, als das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe absolut tabuisiert und die Scham und Angst vor gesellschaftlicher oder klerikaler Ächtung gross war. Das zu wagen, was wir als Coming-out benennen, war dannzumal absolut undenkbar.
Homosexuelle und Lesben waren allzu lange dazu verbannt, ihre Neigungen im Verborgenen, unter sich auszuleben. Und somit quasi “unsichtbar” zu bleiben. Was das an Demütigungen, Missverständnissen, Selbstzweifeln bedeutete, erzählen spannende Persönlichkeiten. Sie reden von ihrer Jugend und Pubertät, ganz offen, direkt, oft mit gewitzter Selbstironie. Dass das jederzeit unaufgeregt, fast heiter und von aller aufgesetzten Peinlichkeit befreit wirkt, ist das grosse Verdienst des 1968 geborenen Lifshitz, der mit Les invisibles erstmals seit über zehn Jahren wieder einen Dokumentarfilm realisierte. Er weiss, wie man lebenserfahrene Gesprächspartner befragt, abholt, zum Reden animiert. Mit dem Resultat, dass nie der Eindruck von ideologisch bemühtem Thesenjournalismus und schon gar nicht von effekthascherischem Voyeurismus aufkommt.
Die höchst unterschiedlichen Statements spiegeln persönliche, gar intime Erfahrungen, die dennoch viel über den radikalen Wandel der soziokulturellen und politischen Verhältnisse ab dem beginnenden zwanzigsten Jahrhundert aussagen. Ausgehend von der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg, über die Ära der westeuropäischen Aufbaustimmung im Kalten Krieg und diejenige der linksintellektuell geprägten 68er-Bewegung – die, auch dank einer erstarkten Frauenbewegung, eine sexuelle Revolution befeuerte – wird der Bogen gespannt. Bis hin zur polarisierenden Aids-Problematik der achtziger Jahre und ins Heute.
So berichten etwa ein sich neckendes Herrenduo auf einer Bootsfahrt im Hafen in Marseille oder zwei couragierte Frauen, die vor Jahrzehnten Paris verliessen, um in der Provinz eine Farm zu führen. Und man darf schmunzeln über einen betagten Hedonisten, der aus seiner Lust an der Lust in all ihren Facetten noch immer kein Hehl macht. Eingebettet in stimmungsvolle, ruhige Bildsequenzen gelingt Lifshitz ein Plädoyer für Toleranz, Akzeptanz, Respekt. Weil dieser Filmemacher begriffen hat, dass man der Befindlichkeit einer Gesellschaft durch die emotionale Beobachtung ihrer Minderheiten oft näher kommt als mit rein analytischen Methoden.
Da schaut man, ob homo- oder heteroerotisch orientiert, interessiert zu. Und stört sich nicht an der etwas unentschlossenen, zeitlich zerdehnten Schlusssequenz. Mehr noch: Man darf das dahingehend interpretieren, dass der Autor das heikle Thema nicht als abgeschlossen, sondern im Fluss befindlich wertet. Womit er genau richtig liegen würde: Im April 2013 hat das französische Parlament die Rechtmässigkeit gleichgeschlechtlicher Ehen garantiert, doch seitdem sind die militanten Proteste erzkonservativer Kräfte dagegen erstarkt. Gut, wenn in einer Phase, wo viele dem Jugendlichkeitswahn huldigen, salopp gesagt die alte (und endlich sichtbare) Garde in eine delikate Debatte mit Verve eingreift.