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«Je nach Tageslicht ist etwas brutal farbig»

Text: Doris Senn / 01. Sep. 2009

FILMBULLETIN Ihr Film ist eine Hymne an die Farbe – im Inhalt und in der Form. Was bedeutet Ihnen Farbe?

PIPILOTTI RIST Sie ist das Wichtigste im Leben. Der Augensinn ist einer unserer Sinne, mit denen wir die Welt wahrnehmen, und in ihm ist die Farbe das Wichtigste. Farbe besteht ja eigentlich nur aus elektromagnetischen Wellen, die jeder Gegenstand aufgrund des Sonnenlichts zurückwirft und die wir aufnehmen. Farben entstehen aber auch, wenn man die Augen schliesst: als «Nachbrenner», die unser Hirn produziert. Das sind die zwei Welten, die mich extrem interessieren: was wir an Wellen sehen und was das Hirn daraus macht. Dabei möchte ich gewisse Dinge nicht als gegeben hinnehmen, sondern damit arbeiten. Unser Augensystem ist bereits das sechste, das sich im Laufe der Evolution entwickelt hat! Es besteht aus einer Retina mit drei Arten Zäpfchen für rote, grüne und blaue Wellen und dann den Stäbchen für Hell und Dunkel. Dabei geht es natürlich auch darum, zu klären, was wir als Farbe empfinden. Das Licht verändert sich im Lauf des Tages, unser Hirn rechnet aber immer im Verhältnis dazu die Farbe aus. Wenn wir auf eine Wiese schauen, wie die Sonne untergeht, und man uns nach der Farbe fragt, sagen wir: Dunkelgrün. Dabei ist es schon lange Grau, und wir nehmen gar keine Farben mehr wahr. Dafür haben wir den Begriff «Farbkonstanz»: Wir konstruieren neunzig Prozent von dem, was wir sehen, im Hirn. Andererseits leben wir aber auch in einer Gesellschaft, die die Farbe als nicht so wichtig empfindet und dafür Strich und Form überbewertet. Farbe wird als oberflächlich, billig betrachtet und stark von der Werbung besetzt. Insbesondere Rot, weil es die Aufmerksamkeit auf sich zieht und unser Hirn unmittelbar darauf reagiert. Und sie hat auch mit Mann und Frau zu tun, wobei man den Männern eher die Linie und die Form zuspricht und den Frauen die Farbe als etwas Amorphes, das einen verschlingen kann. Farbe ist etwas, in das man hineinfällt, das einen emotionell verschlingen kann, diese Angst macht einen Teil der Chromophobie der westlichen Welt aus.

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FILMBULLETIN Die Farbe Rot zieht sich als sprichwörtlicher roter Faden und eigentliches Leitmotiv durch den Film – verbunden mit einem Element, das häufig tabuisiert wird: dem Blut, insbesondere dem Menstruationsblut, das einen zentralen Platz in Ihrem Film einnimmt …

PIPILOTTI RIST Blut als Symbol kommt ja in vielen Mythen und Religionen vor und ist unser grundlegender Saft. Rot andererseits war die allerletzte Farbe, die wir im Lauf unserer Evolution sehen konnten. Und lustigerweise wurden parallel zu unserer Fähigkeit, Rot wahrzunehmen, auch die Früchte rot. Deren “Bedürfnis” war es, gegessen zu werden, um über die Samen in unseren Exkrementen sich weiterzuverbreiten. Je röter die Frucht, umso schneller wurde sie gegessen. Und je eher und besser die Vertreter der Spezies Mensch Rot sehen konnten, umso mehr rote Früchte konnten sie essen und überlebten so umso eher. Wieso dann unser Blut rot wurde, ist zwar ein Rätsel. Wie es überhaupt grundsätzlich keine Logik gibt, wieso gewisse Dinge eine bestimmte Farbe haben. Beim Blut ist es ja so, dass es trotz der starken Farbe grundsätzlich verborgen ist und wir es nur bei einer Verletzung sehen. Andererseits kennt die Hälfte der Menschheit das Blut als etwas monatlich Wiederkehrendes: als Symbol dafür, dass alles funktioniert, dass unsere Fleischuhr tickt. Und ich bin weitaus nicht die Erste, die dieses Blut thematisiert: Es ist in der ganzen feministischen Kunst ein Thema, das immer wiederkommt. Und ich glaube, wir müssen es noch über Generationen immer wieder visualisieren, bis es als «normal» und nicht mehr als «schmutzig» taxiert wird. Ich wollte in meinem Film «behauptete» Rituale «vorschlagen»: Rituale kennen wir aus der Kultur und der Religion, und dort wird uns vorgetäuscht, dass es sie schon immer gegeben habe. In Pepperminta gibt es deshalb symbolische Handlungen, bei denen ich so tue, als hätte es sie immer schon gegeben. Es könnte ja auch so sein, dass wenn ein Mädchen zum ersten Mal die Periode bekommt, ein grosses Fest veranstaltet wird, zu dem alle Verwandten kommen – um die Schöpfungskraft der jungen Frau zu ehren und zu zelebrieren.

FILMBULLETIN Geht das nicht in Richtung eines mystischen Feminismus, in dem die Frau auf ihre Physis und ihre Gebärfähigkeit reduziert wird?

PIPILOTTI RIST Ich kann mich durchaus mit dem Wort «mystisch» identifizieren. Meiner Meinung nach werden feministische Tendenzen viel zu schnell abgeschlossen – im Vergleich zu den Millionen Jahren, die es gebraucht hat, um dahin zu kommen, wo wir jetzt sind. Ein Wort wie «Postfeminismus» hasse ich. Viele Fragen sind ja noch längst nicht beantwortet. Andererseits glaube ich nicht, dass es geschlechterbedingt ist, sich über das Wunder des Lebens zu freuen. Auch wenn für mich die Frau das Normale ist und der Mann die Ausnahme. Ich empfinde die Frau als «Mensch». Wie der Mann/Mensch von Leonardo da Vinci auch die Frauen einschliesst. Es ist, wie wenn Frauen Delfine wären und Männer Zebras. Und als audiovisuelle Zoologin bin ich auf Delfine spezialisiert.

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FILMBULLETIN Wie erreicht man, dass die Farben so voll und satt rüberkommen?

PIPILOTTI RIST Meine Theorie ist, dass in der technischen Entwicklung von Zelluloid und später von Video die Farbe präventiv herausgefiltert wurde. Unsere Hauptsorge als Weisse war, dass die Menschen im Film einen Grün-, Blau- oder Rotstich haben könnten und krank aussähen. Tatsächlich ist es so, dass wir solche «Farbstiche» im Gesicht haben. Die fallen einem in der Realität weniger auf – wir sind vielmehr fixiert auf die Mimik, auf Gerüche, auf die räumliche Dimension des Körpers und Gesichts. Auf zwei Dimensionen kommen die Farbstiche subjektiv stärker zur Geltung, weshalb man auf Film und Video von Anfang an die Farbe entsättigt hat. Wären Film und Fotografie in Afrika erfunden worden, würden sie mit Sicherheit anders aussehen. Ich reproduziere deshalb nur das, was tatsächlich da ist beziehungsweise verloren ging. Je nach Tageslicht ist etwas brutal farbig und manchmal überhaupt nicht. Starkes Sonnenlicht etwa macht die Dinge weniger farbig als Regen. Wobei man im Film nicht einfach gesamthaft die Sättigung hinaufschrauben kann, sondern die einzelnen Farben verändern muss, was in der Postproduktion insbesondere unter Davide Legittimo passierte. Wir nahmen mit 720 Zeilen und 50 Bildern auf – 25 Bilder sind normal –, also eine Art High Definition. Gewisse Hintergründe im Film sind von Jean-Louis Gafner (im Abspann als «Psychodelight» bezeichnet), einem Chemiker aus der Westschweiz, der seit dreissig Jahren in seiner Freizeit mit Musikern und mit grossen Farbdias arbeitet, in die er live Farben reintröpfelt und animiert, und diese bei Liveauftritten direkt auf die Musiker projiziert. Er arbeitet so mit einer Auflösung, die 500 mal schärfer als 35 Millimeter ist.

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FILMBULLETIN Wie lange dauerte die Produktion des Films?

PIPILOTTI RIST Ich habe rund vier Jahre daran gearbeitet – auch weil ich immer noch als Künstlerin arbeite und ein Kind habe. Und wenn bei anderen Filmen die Postproduktion drei bis fünf Monate dauert, rechnete ich von Anfang an mehr als ein Jahr dafür ein. Davon waren rund vier Monate einzig der Bildbearbeitung nach dem dramaturgischen Schnitt (mit Gion Reto Killias) vorbehalten. Auch bestimmte Effekte oder die Trickfilmsequenzen, die Bild für Bild korrigiert wurden, waren speziell arbeitsaufwendig. Die kleine Kamera ist an einem bis drei Meter verlängerbaren Stab befestigt – diesen Stil habe ich ursprünglich mit Käthe Walser für pickelporno erfunden und später alleine und projektbezogen mit Pierre Mennel weiterentwickelt. Wenn wir die Kamera machen, stellen wir uns immer vor, etwas unseren Grossmüttern im Himmel zu zeigen, im Sinne von «lueg dört, Mutti». Wir sprechen dabei auch von «huldigen», eine gewisse Zärtlichkeit hineinlegen im Sinne von «ich huldige dem Betrachteten», so stecken wir die ganze ruhige Kraft und Aufmerksamkeit dort vorne hin, wo die Kamera ist. In Pepperminta arbeiteten wir bereits zum vierten Mal mit Ewelina Guzik, die Pepperminta spielt. Ihr Körper und die Kamera bewegen sich in einer Art Tanz zueinander: Die Mimik, die Bewegung der Akteure und diejenige der Kamera müssen zusammenpassen. Dabei waren oft unzählige Wiederholungen nötig, und es gab viel “Abfall”. Da wir mit 50 Bildern pro Sekunde aufnahmen, konnte Pierre Mennel die Kamera normal schnell «fahren» und von Hand halten, weil im Nachhinein viele Sequenzen in Slowmotion verwandelt wurden. Um dann aber diese butterweiche flüssige Bewegung zu erhalten, mussten wir teilweise auch «frame by frame» von Hand nachkorrigieren. Die nachvertonten Geräusche lassen die Sequenzen aber wieder als Realzeit erscheinen.

FILMBULLETIN Wie gross war das Budget?

PIPILOTTI RIST Für mich als Videokünstlerin war das das grösste Budget bisher – für Filmer ist das Low Budget. Es waren rund dreieinhalb Millionen Franken, wobei das in erster Linie die Löhne für Equipe und Schauspieler sind. Wir – die Produktionsfirmen Hugofilm, coop99 und ich – haben unsere Löhne zurückgestellt. Wir verdienen erst, wenn der Film erfolgreich im Kino läuft. Aber es ging bei diesem Projekt ja auch keineswegs ums Geld. Ich wollte erzählerisch und formal einen Schritt vorwärtsgehen – und dazu braucht es die Struktur und Equipe eines Spielfilms. Die Erfahrung war cool: mit einer Truppe zu arbeiten, in der jede weiss, was sie zu tun hat, und jede ihr Bestes gibt. Wie eine Art Orchester, wo jeder seinen Ton spielt, und zusammen gibts die Melodie. Fast schon sexuell: weil du dich fallen lassen kannst und die anderen dich auffangen. Ein Gefühl von Harmonie. So muss es auch im Gruppensport funktionieren: Jemand tätschelt den Ball, wirft ihn rüber, ein anderer übernimmt …

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FILMBULLETIN Haben Sie filmische Vorbilder?

PIPILOTTI RIST Ich gehöre zu der Generation, die schon so viel gesehen hat, dass sie nicht immer nach dem Urheber fragt oder ihn benennen kann. Beeinflusst bin ich aber sicher vom konkreten Film – wonach der Film nicht nur eine Abbildung der Realität ist, sondern ein Eigenleben entwickelt, eine eigene Kraft – eine Auseinandersetzung mit dem Material an sich, eine Art Augapfelmassage … Ganz stark beziehe ich mich aber auf Sedmikrásky von Vera Chytilová, den ich bereits in meiner Schulzeit sah. Insbesondere was Aussage und Kraft der Erzählung betrifft. Oder wie sie den Raum im Bild inszeniert. Oder ihre Art der positiven Besetzung der Hysterie, der Stärke in der Schwäche. Mit ihr, die dieses Jahr achtzig wurde, werde ich nächstes Jahr zusammenarbeiten. Ich habe vor, aus ihrem Film eine Installation zu machen – eine Inszenierung ihres Werks in der Prager Kunsthalle Dox.

Das Gespräch mit Pipilotti Rist führte Doris Senn

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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