Ist Avanti, der zurzeit in der Westschweiz anläuft, Ihr erster Film für die Kinoleinwand? Und wie kam es dazu?
Es gab vorher schon einen Film: Rollow aus dem Jahr 2005 – einen rund hundertminütigen Spielfilm über zwei Jugendliche, den ich gänzlich selbst produziert habe. Damit wollte ich mich wappnen, bevor ich einen Kinofilm in seiner ganzen Ökonomie und Komplexität in Angriff nahm. Für Avanti habe ich zudem erstmals mit Schauspielerinnen vom Kaliber einer Hanna Schygulla oder Miou-Miou gearbeitet. In meinen bisherigen Filmen spielten meine Familie, meine Freunde oder Freunde meiner Freunde mit.
Haben Sie Hanna Schygulla für die Rolle von Suzanne selber ausgewählt?
Ja. Gerade die Rolle von Léas Mutter, die Hanna Schygulla spielt, empfinde ich als sehr speziell und schwierig, wenn man nicht bei einer Karikatur des Verrücktseins landen möchte. Ich wollte jemand eher Heiteres, Subtiles. Entsprechend habe ich nach Personen-Figuren gesucht – das heisst, keine Schauspielerin, die eine Rolle fabriziert, sondern sie so spielt, dass ich mich der Figur nahe fühlen kann. An Hanna habe ich dabei schon recht früh gedacht: Was ihre Energie, ihre Sensibilität betrifft, erschien sie mir ideal für die Rolle. Nina Meurisse kannte ich aus Frédéric Mermouds Complices. Und wir fanden, dass die beiden im Film “funktionierten” – sowohl in Bezug auf die Energie, den Kontrast, aber auch, was die physische Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter betraf.
Man hat den Eindruck, Hanna Schygulla agiere in ihrer Rolle als Suzanne öfter zwischen Person und Rolle …
Genau das interessiert mich auch, wenn ich mit meiner Familie oder meinen Freunden Videos drehe. Es gibt immer ein Drehbuch – aber ich lasse mich auch von den Darstellern inspirieren: Diese Mischung und diese feine Grenze zwischen Fiktion und Realität faszinieren mich sehr. In Avanti gibt es Ähnliches – zudem filmen die Schauspielerinnen auch selbst. Daraus entstanden drei Bildebenen: Es gibt den Film, gedreht vom Kameramann, dann gibt es die eingefügten Super-8-Streifen – Familienfilme, die mein Vater gemacht hat –, und dann gibt es die Kamera im Film, mit der die Frauen sich wechselweise filmen.
(Bild: «Angels Camp», Videoinstallation, Schweizer Pavillon der Biennale von Venedig 2003, Foto Georg Rehsteiner)
Nicht nur in Bezug auf diese Mediatisierung der Realität, auch was die Einweisung der Mutter in die Klinik oder deren “Entführung” durch ihre Tochter betrifft, hat Avanti viele Ähnlichkeiten mit der Story des Films Family Viewing von Atom Egoyan, nach dessen Film Sie auch schon eine Installation benannt haben. Was bedeutet Egoyans Film für Sie?
Family Viewing hat mich wirklich erschüttert. Ich liebe seinen Blick, seine Kritik gegenüber der nordamerikanischen Gesellschaft, gegenüber den Medien und der Konsumwelt. Und natürlich seinen Blick auf die Familie. Ich bewundere diesen Film sehr. Meine Installation «Family Viewing» hat jedoch sicher mehr Bezüge zu Egoyans Film und wirkt für mein Empfinden “heftiger” als Avanti. Egoyans Film ist aber längst nicht der einzige, der mich beeinflusst hat. Sicher gehören auch My Own Private Idaho von Gus van Sant dazu, Teorema von Pasolini, auch Rosetta oder L’enfant der Dardenne-Brüder.
Die persönliche Erinnerung, die familiäre Vergangenheit sind in Avanti sehr zentral …
Mich interessiert, wie eine persönliche Geschichte zu einer kollektiven werden kann. Die Super-8-Aufnahmen, die in avanti zu sehen sind, zeigen meine Familie. Sie sind einzigartig und universell zugleich. Mich beschäftigt aber auch die Frage: Was wird aus den Spuren unserer Erinnerung? Wie gehen wir mit Filmen um, die unsere Erinnerung aufbewahren? Und natürlich spielt in Avanti auch die Frage nach dem Anderssein mit: Was ist unsere ganz persönliche Schwelle in der Konfrontation damit? Bis zu welchem Punkt akzeptieren wir den/die andern in ihrem Anderssein? Was mir an der Figur von Suzanne besonders gefällt, ist, dass sie ihre Emotionen ebenso wenig im Griff hat wie ein Kind. Sie ist eine ebenso “authentische” wie wunderbare Persönlichkeit – mit einer gewissen Unberührtheit und einer grossen Offenherzigkeit.
In Ihren Videos und so auch in Avanti tauchen immer wieder ähnliche Settings auf: das dschungelartige Walddickicht, die Blockhütte, der Ort am Wasser, die Autobahn … Was bedeuten diese Locations für Sie?
(Bild: «Family Viewing», Videoinstallation, Centre Pasquart, Biel/Bienne, 2008; Foto Stefan Altenburger)
Die Autobahn etwa gefällt mir – wie die anderen Orte auch – in erster Linie aus ästhetischen Gründen. Ich mag es nicht, wenn man anhand des Dekors sagen kann, wo eine Handlung lokalisiert ist. Es könnte in der Schweiz sein, aber auch irgendwo sonst. Ich möchte die Geschichten in einem globaleren Rahmen ansiedeln. Ich bin immer auf der Suche nach einem Stück Niemandsland, nach unbesetzten Orten, nach Fluchtorten.
Im Film finden sich überhaupt viele Motive, Figuren, Themen, die schon in verschiedenen Ihrer bisherigen Filme und Installationen auftauchten. War der Film für Sie eine Möglichkeit, alle Ihre Werke in einem zusammenzubringen?
Ja, viele Ideen flossen da zusammen. Zwar war es nicht meine Absicht, einen “Kunstfilm” zu machen, vielmehr wollte ich eine einfache Geschichte erzählen, die alle verstehen. Aber klar, es ist ein Autorenfilm und keiner, der die breite Masse ansprechen wird. Ich wollte Elemente aus der zeitgenössischen Kunst in den Film einbringen und damit Leute erreichen, die sich normalerweise nicht für Museen und Kunst interessieren. Auch Menschen unterschiedlicher Generationen. Gleichzeitig war mir wichtig, dass es in Avanti auch “authentische” Elemente hat – so etwa das Lied «Mamma mia, dammi cento lire», das meine Grossmutter jeweils zu singen pflegte und das auch in meinem Video Wouldn’t it be Nice vorkommt. Ich glaube, je näher man sich authentischem Material annähert, umso mehr vermag man die Menschen zu berühren.
Ist die Kunst eine Möglichkeit für Sie, eigene Erlebnisse und Obsessionen zu thematisieren?
Ich wollte immer möglichst nah über mich selbst sprechen – über Empfindungen, die ich habe, über ganz persönliche Bilder und Gedanken – und versuchen, davon ausgehend, universell zu werden. Dabei ging ich von alltäglichen Handlungen aus, drehte bei mir zu Hause, mit Freunden … So etwa auch in Angels Camp, den ich für die Biennale in Venedig gemacht und fast ausschliesslich mit Freunden gedreht habe. Wir haben in einem Naturschutzpark gedreht, haben am Strand geschlafen – es war eine Art Leben im Kollektiv, Kunst und Leben waren ganz eng miteinander verbunden. In Avanti wiederum ist Monique Mélinand, sie spielt die Grossmutter, im realen Leben eng befreundet mit Miou-Miou, die Suzannes Schwester spielt. Diese Verknüpfungen mag ich sehr – das spiegelt sich auch in meinen anderen Werken, wo Leben / Familie / Freunde und Kunst häufig ineinander übergehen. Was mich im Grunde am meisten interessiert, sind die Beziehungen zwischen den Individuen, die Frage, wie eine Gemeinschaft funktioniert. Ob das nun eine Familie ist, der Freundeskreis oder eine Clique von Jugendlichen.
Wie würden Sie Ihre Erfahrung mit dem Filmemachen nun nach Avanti beschreiben?
Es ist insbesondere eine Arbeit im Kollektiv. Das unterscheidet sich sehr von meinem bisherigen Vorgehen, wenn ich etwa von einem Museum eine Carte blanche für eine Installation erhalte. Beim Film wird jede Etappe besprochen – gemeinsam. Mir gefiel das, in einer Art Thinktank-Kollektiv zu sein – auch im Verbund mit dem Produzenten. Ich habe viel gelernt – unter anderem, eine Geschichte zu schreiben. In der Kunst gehe ich üblicherweise von emotional starken Augenblicken aus, ohne diese dann in eine komplexe Geschichte einbauen zu müssen – hier musste ich nach einem anfänglichen Drehbuchentwurf dem (emotionalen) “Fleisch” noch ein entsprechendes (Erzähl-)“Skelett” hinzufügen.
Ihr nächstes Projekt?
Ich habe fünf lange Jahre mit Avanti verbracht – und erwarte nun mit Ungeduld die Feedbacks. Ich möchte noch etwas Zeit verstreichen lassen und Distanz gewinnen, um das Werk besser einschätzen zu können. Vorerst wende ich mich aber wieder einem Ausstellungsprojekt zu – einer Art Fortsetzung von «Family Viewing»: eine Installation mit rund dreissig Projektionen auf Monitoren. Dabei geht es wieder um die Familie – insbesondere um Sammlungen, die meine Grossmutter gemacht hat. Am Ende ihres Lebens konnte sie nicht mehr in ihren Garten gehen – so begann sie zu zeichnen. Nach ihrem Tod fand man über tausend Blumenzeichnungen. Oder sie sammelte Steine – und unter jedem Stein stand auf einem kleinen Papierchen, wer ihn ihr geschenkt und wo man ihn gefunden hatte. Es wird letztlich eine Hommage an meine Grossmutter, die vor zweieinhalb Jahren verstorben ist – und wieder eine Reverenz an die Erinnerung mit der Frage: Was tut man mit solchen Dingen?
Das Gespräch mit Emmanuelle Antille führte Doris Senn