In Genf wehen derzeit schwarzweisse Fahnen. Fünf Buchstaben prangen darauf: FIFDH. Seit 22 Jahren geht es dem Festival International et Forum sur les Droits Humains aber um die Grautöne. Um das Engagement zwischen Kriegsfronten und anderen Bedrohungen der Menschenrechte. Genau so wichtig wie die Filme, die hier gezeigt werden, sind die Gespräche mit internationalen Gästen um aktuelle politische Themen. Und nichts könnte aktueller sein als der Gazakrieg.
Die Grande Salle im Theatre Pitoëff ist am Dienstagabend bis auf den letzten Platz besetzt. Auf der Bühne spricht sich der palästinensische Friedensaktivist Ali Abu Awwad in Rage, per Video zugeschaltet pflichtet ihm May Pundak, sozusagen sein israelisches Pendant, bei. Die Gewalt in Gaza müsse enden, gestern, nicht heute. Konkrete Pläne seien nun gefordert, ein neues Selbstverständnis für ein Zusammenleben auf Augenhöhe. Wie bisher könne es nicht mehr weitergehen. Awwad fordert einen radikalen Stopp der Gewaltspirale, internationalen Druck für eine Lösung, nicht Parteinahmen. Das Publikum im Saal brauchen die beiden kaum zu überzeugen, tosender Applaus begleitet ihre Statements.
Die Reden der Aktivisten sind ein Pflaster auf die Wunden, die die täglichen Nachrichten aus dem zerstörten Landstrich in unsere Köpfe reissen. Würde man diesen Stimmen eine Chance geben, könnte man Hoffnung schöpfen.
Doch wie gelangt man mit einer Geschichte voll Gewalt und Hass zur Haltung eines Ali Abu Awwad? Am Rande des Festivals haben wir uns am Nachmittag vor dem Podium mit ihm zum Gespräch über seine Forderungen an die internationale Gemeinschaft und seine Hoffnung für die Zukunft getroffen.
FB Ali Abu Awwad, Sie sind heute Friedensaktivist, doch Ihre persönliche Geschichte ist von Gewalt geprägt. Wie sind Sie dorthin gekommen, wo Sie heute sind?
AW Ich bin in einer politischen Familie aufgewachsen, meine Mutter war eine Führerin der Palestine Liberation Organization (PLO). Sie verbrachte Jahre in israelischen Gefängnissen, ich ebenso. Meine erste Erfahrung mit gewaltlosem Widerstand war in diesem Gefängnis. Wir organisierten einen Hungerstreik, um einander sehen zu können, da wir in getrennten Einrichtungen waren. Und es hat geklappt. Für mich war es das erste Mal, dass ich erfolgreich etwas von Israel erstritten habe.
FB Wann sind Sie freigekommen? Und wie hat das Ihre Sicht auf den Konflikt verändert?
AW In Folge der Oslo-Vereinbarung wurden mehrere Gefangene freigelassen, darunter meine Mutter und ich. Während der Zweiten Intifada im Jahr 2000 wurde mein Bruder von israelischen Soldaten brutal ermordet. Ich war zu dieser Zeit im Spital, weil ich von einem israelischen Siedler in der Westbank schwer verletzt worden war. Man kommt ins Leben zurück und denkt, dass man dieselbe Person wie zuvor ist. Aber das ist nach solchen Erfahrungen nicht so. Ich hatte davor schon gemerkt, was es bedeutet, Land, Menschen, Träume und den Glauben an eine Zukunft zu verlieren. Aber meinen Bruder zu verlieren war eine neue Herausforderung. Meine Mutter machte als PLO-Führerin einen mutigen Schritt, indem sie israelische Mütter in ihr Zuhause einlud, die selbst Kinder verloren haben. Für mich war das surreal. Ich sah Israeli als gefühllos, nicht zu Tränen oder Reue fähig. Plötzlich sah ich, dass das, was ich für den Teufel hielt, ein Gesicht hatte, und es war ein menschliches Gesicht.
Ali Abu Awwad
wurde 1972 in der palästinensischen Westbank geboren, wo er noch heute lebt. Als Jugendlicher wehrte er sich gewaltsam gegen die israelische Armee. Er verbrachte vier Jahre in einem israelischen Gefängnis. Seit 22 Jahren setzt er sich für eine gewaltfreie Annäherung zwischen Palästina und Israel ein. Inspiration fand er bei Martin Luther King Jr., Mahatma Ghandi und Nelson Mandela. 2015 gründete er «Taghyeer (Change)», eine Grassroot-Bewegung, die sich für einen gewaltfreien Wandel von unten stark macht und sich mit internationalen Organisationen, etwa «B8 of Hope» aus Genf, vernetzt. Awwad und seine Arbeit wurde in diversen Dokumentarfilmen porträtiert, darunter Encounter Point und The Third Harmony.
FB Seither sind mehr als 20 Jahre vergangen. Was sind die Grundsätze für Ihren Aktivismus heute?
AW Bis heute lasse ich mich von den Prinzipien der Gewaltlosigkeit leiten. Und mehr als das: Es ist meine Identität. Vor ein paar Jahren gründete ich die Bewegung «Taghyeer (Change)», die Gewaltlosigkeit als gemeinsame Identität für Palästinenser:innen anstrebt. Zusammen mit Organisationen wie der Schweizer NGO «B8 of Hope» und vielen weiteren bilden wir ein globales Netzwerk, das die Botschaft nicht nur der Versöhnung, sondern auch der Verantwortung verbreiten will. Denn wir brauchen heute verantwortungsvolle Politiker:innen und eine Grassroot-Bewegung, die weiter denkt. Weder die sieben Millionen Jüd:innen noch die sieben Millionen Muslim:innen werden aus dem Gebiet von Palästina und Israel verschwinden. Niemand geht nirgendwo hin, egal, was Netanyahu und andere sagen.
FB Hatten Sie vor dem 7. Oktober das Gefühl, dass sich etwas in die richtige Richtung bewegt?
AW Nichts hat sich in die richtige Richtung bewegt. Das Osloer Abkommen war die letzte Chance. Was heute in Gaza passiert, ist die Konsequenz dieser verpassten Chance auf echten Frieden. Heute verunmöglicht die rechtsextreme Regierung Israels die Zweistaatenlösung nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Auf palästinensischer Seite fehlt es wiederum an Führung. Täglich sind wir mit unseren zwei Identitäten konfrontiert: Jener der Rebellion gegen die Besatzung und jener der Zugehörigkeit zu einem Staat, der nicht existiert. Wir werden in diesem inneren Konflikt aufgerieben. Eine gewaltfreie Auseinandersetzung mit uns selbst bringt uns dazu, herauszufinden, wer wir sind. Das grösste Hindernis für einen Frieden ist die israelische Besatzung. Und der grösste Konflikt für die Palästinenser:innen ist die Zerrissenheit zwischen den zwei Identitäten – zwischen Hamas und Autonomiebehörde – die nie eine gemeinsame Lösung brachten. Zuallererst müssen wir Frieden mit uns selbst schliessen.
FB Was wäre in Ihren Augen die Lösung?
AW Wir müssen auf die anderen zugehen. Palästinenser:innen müssen zu Israelis sagen können: Wir sind keine Fanatiker, wir haben einen Preis dafür gezahlt, dass eure Identität in diesem Land existieren kann – und auch wir brauchen Anerkennung. Wir müssen einander gegenseitig anerkennen können. Es geht nicht um Rechte, es geht viel tiefer, um Identitäten.
FB Sehen Sie politische Akteur:innen, die diese vermittelnde Rolle einnehmen könnten?
AW Ich habe schon immer Akteur:innen gesehen, die fähig wären. Aber es geht nicht darum, wer da ist, sondern um das «wie» und «was». Welche Plattform, Struktur oder welches System erlaubt es diesen Akteur:innen, Lösungen überhaupt vorzuschlagen? Ohne Unabhängigkeit und Sicherheit wird niemand fähig sein, Frieden oder Staatszugehörigkeit zu schaffen. Aber wir wollen nicht warten, bis die Unabhängigkeit einfach passiert. Unser Ziel ist es, sie zu ermöglichen.
FB Sie haben in anderen Interviews gefordert, dass die internationale Gemeinschaft statt auf die Seite einer Partei zu schlagen, für eine Lösung eintreten sollte. Würden Sie die USA auffordern, Israel nicht mehr militärisch zu unterstützen oder was wäre Ihre Botschaft?
AW Was Sie erwähnen, ist kleiner als das, was ich fordere. Ich glaube alle, die USA, die EU, Russland, China und die anderen sollten an einen Tisch sitzen und nicht nur einen Waffenstillstand, sondern ein Ende des Konflikts fordern. Es müsste eine Friedenskonferenz geben, bei der alle Parteien vertreten sind, mit einem Aktionsplan für die nächsten fünf Jahre, um Grassroot-Organisationen und der Politik ihre Arbeit zu ermöglichen. Ich erwarte keine Stellungnahmen, ich erwarte Taten.
Bild: Danny Leal / FIFDH
Ali Abu Awwad am FIFDH 2024. Bild: Danny Leal / FIFDH
Bild: Danny Leal / FIFDH
FB Sehen Sie auf israelischer Seite Menschen, die sich für eine Lösung in Ihrem Sinne einsetzen?
AW Ich habe immer gesagt, dass die Waffe des gewaltfreien palästinensischen Ansatzes nicht einfach unsere eigene Menschlichkeit ist. Sondern auch die Menschlichkeit unserer Feinde. Ich habe keinen Zweifel, dass die jüdische Bevölkerung von Israel genug Menschlichkeit besitzt, um diese Besetzung zu beenden. Aber damit sie das machen können, müssen wir ihnen gewaltfrei begegnen, damit sie sich sicher fühlen können. Die Angst auf beiden Seiten ist unser grösster Feind. Ich wünschte mir, der Effort wäre vor dem 7. Oktober 2023 geschehen. Jetzt kommt es mit einem enormen Blutzoll und zu einem Tiefpunkt bezüglich unserer Sicherheit und Würde.
FB Mit einem Blick auf den Überfall Russlands in der Ukraine fällt es vielen schwer, an Gewaltlosigkeit festzuhalten. Viele, die sich vor diesem Krieg für Abrüstung eingesetzt haben, sehen heute die Notwendigkeit, sich zu verteidigen. Glauben Sie, Gewaltlosigkeit löst alle Situationen?
AW Ja, Gewaltlosigkeit ist immer die Antwort. Doch wie man sie umsetzt, ist nicht immer klar. Gewaltlosigkeit kann keine Strategie oder Taktik sein. Für mich ist es mehr, es ist wie gesagt eine Identität. Meine Sicht ist, dass Europa zu wenig tut und die USA Partei ergreifen. Die Gewalt und dieser Kriegswahnsinn müssen sofort aufhören.
Der Schaden, der Gewalt anrichtet, ist enorm. Es braucht unglaublich viel, um wieder zu heilen. Ich will nicht an einem zerstörten Ort leben und den Rest meines Lebens damit verbringen, zu heilen, was kaputt ging. Ich weiss, dass Israel sich mit militärischer Macht nie wird Sicherheit verschaffen können. Jüd:innen in Israel werden nie erfolgreich darin sein, in Sicherheit zu leben, indem sie meine Welt mit einer militärischen Besatzung zur Hölle verwandeln. Auf der anderen Seite glaube ich nicht, dass mein moralischer Frieden mit Töten erfüllt wird.
FB Sehen Sie einen Wandel in der Wahrnehmung der Palästinenser:innen in den arabischen Staaten seit dem Krieg?
AW Ich erwarte nicht viel von den arabischen Staaten. Die arabischen Staaten positionieren sich schlecht, wenn sie es überhaupt tun. Der Krieg hat daran nichts geändert. Wahrer Frieden mit Israel kann nur durch einen Frieden mit den Palästinenser:innen geschehen. Robi Damelin etwa ist eine israelische Friedensaktivistin, die ihren Sohn im Konflikt verloren hat. Für mich tritt diese Frau viel stärker für meine Ziele ein als viele Araber:innen.
FB Haben Sie eine Mission hier in Genf, eine Botschaft für die Menschen, die an das FIFDH kommen?
AW Ja, ich habe eine wichtige Nachricht für sie. Manchmal denke ich, die Welt streitet sich und ist gespalten, was unsere jeweiligen Rechte da drüben angeht. Doch es geht nicht wirklich um uns. Die Spaltung zwischen Christ:innen, Muslim:innen und Jüd:innen zu diesem Thema ist gewaltig. Politiker:innen, die deshalb keine Haltung einnehmen wollen, nehmen das als Entschuldigung, um nichts zu tun. Mein Appell an alle ist, zusammenzuhalten und von der Politik ernsthafte Schritte für eine Lösung zu fordern.